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Kafkas Freundin war an allem Schuld

■ Die Programmkneipe „Briefe an Felice“ erinnert an die berühmte Briefpartnerin

„Briefe an Felice“ ist der ungewöhnliche Name für eine Kneipe in der Immanuelkirchstraße in Prenzlauer Berg unweit des Gotteshauses, nach dem die Straße benannt ist. Früher war dort die „Oase“ untergebracht, doch diese „versickerte“ und existiert nicht mehr. Was jetzt Uwe Nutto, ein im Zelt kampierender Lebenskünstler, radreisender Globetrotter, Puppenspieler und Kunstkenner ins Leben gerufen hat, wird am Eingang so offeriert: Galerie, Ausstellungen, Musik, Theater, Essen, Trinken, Matinee, Gespräche, Vorlesungen, Vortragung. Was „Max“ – so nennt sich Nutto – auf 22 Quadratmetern ausbreitet, verfügt über eine Bühne, über Probe- und Ausstellungsräume, eine Kellerbar und eine gute Küche.

Die „Briefe an Felice“ würden also hier nie den Adressaten erreichen. Da müßte man schon ein paar Häuser weitergehen, zum Doppelhaus Nummer 29 mit Portal I und II, Ecke Winsstraße. Allerdings wäre zudem noch eine Zeitverschiebung von fast 90 Jahren notwendig. Alles klingt ein wenig kafkaesk und ist es auch, denn besagter Franz Kafka hatte mit dieser Adresse auch so seine Schwierigkeiten. „Schuld“ war eine 24jährige Berlinerin namens Felice Bauer, die er am 13. August 1912 bei seinem Freund Max Brod kennengelernt hatte und die ihm nicht mehr aus dem Sinn ging. Felice war Prokuristin bei „Polographen-Firma Lindström“ in der Großen Frankfurter Allee. Wenige Wochen danach entstand „unter dem Einfluß des Fräuleins“ ein Briefwechsel, der 43 Jahre später in die Literaturgeschichte eingehen sollte. Felice – dem Holocaust entkommen und seit 1936 in den USA lebend – gab 1955, 31 Jahre nach seinem und fünf Jahre vor ihrem Tod die Korrespondenz frei. Sie verkaufte sie an Kafkas Verleger, 750 Seiten, fast die Hälfte stammt aus jener Zeit, als sie mit ihren Eltern im dritten Stock des gutbürgerlichen Vorderhauses wohnte. Zwei Verlobungen zwischen Kafka und ihr gingen in die Brüche. 1917 trennten sich die beiden endgültig. Felice wohnte schon längst in Charlottenburg, in einer „feineren Gegend“. Damals ahnte sie noch nicht, daß sie einst in die Weltliteratur eingehen würde. Kafkas Erzählung „Das Urteil“ trägt die Widmung: „Für Fräulein Felice B.“.

Die Immanuelkirchstraße 29 schweigt. Das Gebäude, zwischen 1903 und 1904 errichtet, hat längst seinen Glanz verloren. Die Fassade ist grau und verwittert, Balkone müssen wegen Einsturzgefahr abgerissen werden; ein paar Blumenkästen, verzierte Gesimse zwischen Quaderputz, lädierte Frauenköpfe zwischen Engelsflügeln an den oberen Etagen, dort, wo vor rund 90 Jahren Felice lebte, hoffte, litt und Kafkas Briefe las. Im Labyrinth der Hinterhöfe verfängt sich muffiger Wind in öden Mauern, dazwischen Akazien, Wäscheleinen und Mülltonnen.

„Max“, fast auf Nachbarschaft, hat Felice wiederentdeckt. Erste Lesungen aus Kafkas Briefen und seiner Dichtung fanden großen Anklang. Felice „lebt“ wieder in der Immanuelkirchstraße. Albert Jaritz/ADN

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