Das Demjanjuk-Drama nimmt kein Ende

Das Oberste Gericht Israels hat gestern die Berufungen gegen Demjanjuks Freispruch abgelehnt, ebenso die Eröffnung eines neuen Verfahrens / Doch seine Freilassung wurde verschoben  ■ Von Amos Wollin

Tel Aviv (taz) – Beinahe wäre John Demjanjuk gestern auf freien Fuß gesetzt worden. Doch es kam anders. Zwar schloß sich das Oberste Gericht Israels den Einwänden der Staatsanwaltschaft gegen die Eröffnung eines neuen Verfahrens gegen den heute staatenlosen gebürtigen Ukrainer an, den die USA vor sieben Jahren an Israel ausgeliefert haben, und entschied sich damit eigentlich für seine Freilassung und Ausweisung. Verschiedene jüdische Organisationen versuchten aber, im letzten Moment einen Aufschub der Freilassung Demjanjuks zu erwirken. Sie wollen weitere Gerichtsverfahren gegen Demjanjuk anstrengen. Ihrem Gesuch entsprechend hat der Präsident des Obersten Gerichts, Meir Schamgar, die Freilassung John Demjanjuks und seine Ausweisung auf Freitag verschoben. Bis zu diesem Zeitpunkt können neue Gesuche für ein Verfahren gegen Demjanjuk oder Einsprüche gegen die jüngste Entscheidung des Obersten Gerichts eingereicht werden. Es ist also gegenwärtig gar nicht sicher, ob und wann Demjanjuk Israel verlassen kann.

Die bis gestern vorliegenden acht Berufungen gegen die Freilassung und Abschiebung von Demjanjuk haben die drei Richter des Obersten israelischen Gerichtes jedenfalls einmütig abgelehnt, ebenso wie die Eröffnung eines neuen Verfahrens wegen angeblicher Nazi-Kriegsverbrechen im Vernichtungslager Sobibor, wo Demjanjuk zeitweise als SS-Wachmann eingesetzt war. Das Gericht stützte sich dabei auf die Argumente der Staatsanwaltschaft: ein solches „zweites Verfahren“ in einer bereits verhandelten und vom Obersten Gericht im Berufungsverfahren entschiedenen Sache stehe im Widerspruch zu bestehenden gesetzlichen Bestimmungen. Die Obersten Richter Schlomo Levin, Gabriel Bach und Michael Cheschin hatten in ihrer Entscheidung auch nichts gegen die Meinung des Staatsanwaltes einzuwenden, daß ein neuer Prozeß nicht nur enorm aufwendig wäre, sondern auch keine Gewähr für eine Verurteilung Demjanjuks biete – bislang mangelt es ganz offensichtlich an neuem Beweismaterial.

Außerdem könne kein neues Verfahren eingeleitet werden, da die USA Demjanjuk vor sieben Jahren mit Gründen an Israel auslieferten, die im ersten Verfahren bereits verhandelt wurden. Eine neue, nicht auf die Auslieferungsgründe gestützte Anklage wäre rechtlich unzulässig.

Vor sieben Jahren hatte der Prozeß gegen Demjanjuk begonnen. Er wurde verdächtigt, mit „Iwan dem Schrecklichen“ im Konzentrationslager Treblinka identisch zu sein, und vor fünf Jahren zum Tode verurteilt. Vor drei Wochen war er in einem aufsehenerregenden Berufungsverfahren freigesprochen worden.

Eigentlich hatte der 73jährige Demjanjuk gehofft, heute über Paris in die USA zurückkehren zu können, wo seine Familie in Cleveland (Ohio) wohnt. Nach einigem Zögern hatten sich die US-Behörden entschlossen, ihm wenigstens vorübergehend Asyl zu gewähren, nachdem sie ihm die amerikanische Staatsbürgerschaft bereits während des Auslieferungsverfahrens entzogen hatten. Dem Verteidiger Joram Scheftel und den anwesenden Mitgliedern der Demjanjuk-Familie, die mit einem speziell angereisten Mitglied des US- Kongresses und einem kleinen Trupp von Leibwachen auf die Haftbefreiung von Demjanjuk gewartet hatten, blieb nur übrig, gegen die weiteren Verzögerungsmanöver zu protestieren.

Auch mit Anschlägen auf Demjanjuk und seinen Verteidiger muß gerechnet werden. Sprecher rechtsextremer Gruppen in Israel, wie zum Beispiel Noam Federman von der „Kach“-Bewegung, griffen nicht nur das „enttäuschende Urteil“ an, sondern auch die Richter selbst. Federman beschuldigte sie, „Nazis in Schutz zu nehmen und Juden zu schaden“. Ferner erklärte er vor den Medien, „daß er jetzt auf alle weiteren gerichtlichen Schritte verzichten“ werde. Ein Mann im Gerichtssaal, der zu einer der Organisationen gehört, die einen neuen Prozeß durchsetzen wollen, bemerkte: „Jede Stunde, die Demjanjuk weiter im Gefängnis sitzt und nicht weiß, wie es weitergeht, ist ein Gewinn.“

Unter den Organisationen, die Berufung gegen den höchstrichterlichen Freispruch eingelegt hatten, befindet sich der Jüdische Weltkongreß und Inter-Amicus (eine internationale Menschenrechtsorganisation), das Simon Wiesenthal Center und acht Überlebende des Lagers Sobibor; die Weltföderation jüdischer Widerstandskämpfer, Partisanen und Lagerinsassen, die Organisation der zweiten Generation (von Holocaust-Opfern), Meir Indor (Vorsitzender des Verbandes der Terroropfer in Israel), der bereits erwähnte Noam Federman, der Jerusalemer Rechtsanwalt Hanan Rubinstein und neuerdings auch „Lapid“, eine „Bewegung zur Aufrechterhaltung der Lehren des Holocaust“.