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Wo Europa anfängt

Berliner Festwochen: Die Lesereihe „Japanische Literatur“ in der Akademie der Künste  ■ Von Bernd Imgrund

In einem deutschen Supermarkt habe sie einmal eine kleine Dose gekauft, schreibt Yoko Tawada in ihrem 1991 erschienen Lyrik- und Erzählband „Wo Europa anfängt“. Auf der Dose sei eine japanische Frau abgebildet gewesen, darin habe sie jedoch nur ein Stück Thunfisch gefunden. Die Frau müsse sich wohl während der langen Reise vom Pazifik bis zur Elbe bei Hamburg in einen Fisch verwandelt haben.

Diese Episode enthält alle Elemente Tawadaischer Erzählkunst: den ebenso phantasievollen wie genauen Blick fürs Absurde im Alltäglichen, die Verwandlung als Movens der Geschichte und das Wasser als Elixier der Metamorphose. Schon ihr erster Kurzroman „Das Bad“ variiert diese Motive. Da der Mensch zu achtzig Prozent aus Wasser bestehe, sei es kein Wunder, daß er jeden Tag anders aussehe. Und in „Wo Europa anfängt“ wird die Welt zur Wasserkugel, in der es den Fischen gegeben ist, das jeweils andere Ende auf geradem Weg schwimmend zu erreichen. „Schreiben heißt für mich Über-Setzen“, erklärte die 33jährige Wahlhamburgerin während ihrer Lesung in der Akademie der Künste, es sei ein zugleich etwas hinter sich lassender und Raum für Neuinterpretationen schaffender Vorgang. Mit Hilfe ihrer „japanischen Brille“, die sie zuweilen aufsetze, um dem deutschen Alltag noch einmal mit dem naiven Blick des Ankömmlings begegnen zu können, gelingen ihr immer wieder erstaunliche, fein beobachtete Sentenzen. In ihrem Stück „Die Kranichmaske, die bei Nacht strahlt“, das im Oktober im Theater am Halleschen Ufer zu sehen sein wird, weigert sich ein „Übersetzer“, das Wort „Spiegelei“ zu übertragen, weil es doch zu schön komponiert sei: der Spiegel als Instrument der Transformation, das Ei als Metapher des Werdens.

Der unprätentiöse Auftritt der Yoko Tawada wurde zum vorläufigen Höhepunkt der Reihe Japanische Literatur im Rahmen der Berliner Festwochen, nicht nur wegen der oft verblüffenden Originalität der vorgetragenen Texte, sondern auch wegen der fremdartigen Sprachmelodie, die der japanische Teil der Lesung vermittelte. Noch einen Tag zuvor wären diese für des Japanischen Unkundige rein akustischen Einlagen entbehrlich gewesen, entpuppte sich doch der anstelle des nicht erschienenen Autors geladene japanische Literaturwissenschaftler nicht gerade als lautmalerisches Talent. So wurde unversehens Klaus Modick, selbst Schriftsteller und Literaturkritiker der Zeit, zur Hauptfigur des Abends. Ansprechend verlas und analysierte er die Texte von Ryu Murakami.

Wie Yoko Tawada Träger des in Japan bedeutenden Akutagawa- Preises, hören hier jedoch die Parallelen zwischen beiden schon auf. Während Tawadas Metamorphosen, vor allem jene vom Mensch zum Tier, tief im japanischen Märchen verwurzelt sind, wirken Murakamis Erzählweisen und Themata überaus polyglott. Der 1952 geborene Tokyote, ein mediales Multitalent, moderiert eine eigene Talkshow und dreht Filme, zuletzt den gerade in den Kinos angelaufenen Streifen „Tokyo Decadence“.

Daß der Film wie manche seiner Bücher nicht gerade als Meisterleistung daherkommt, liegt an Murakamis überbordender Schaffenskraft. Seine bisher nur zum Teil ins Deutsche übersetzten Romane und Erzählungen erscheinen nahezu im Jahresabstand, meist arbeitet er an mehreren Manuskripten gleichzeitig, die sukzessive in verschiedenen Zeitungen erscheinen.

Ort der Handlung ist zumeist der Sumpf der Großstadt, das Milieu der Zuhälter, Fixer und Huren zwischen Gewalt, Rausch und Verwahrlosung. Sein 1980 erschienener Roman „Schließfach-Babys“ behandelt die Geschichte zweier Kinder, die, gerade abgenabelt, von ihren Müttern in Bahnhofsschließfächern deponiert werden. Bei Adoptiveltern aufgewachsen, beschreitet der eine eine Verbrecherlaufbahn, der andere wird Musiker. Beiden gemeinsam bleibt das Gefühl der Entwurzelung und ein Hang zu Nihilismus und Gewalt.

Thematisch nicht allzuweit entfernt von Murakami siedelt Masahiko Shimada, dessen Werk am Freitag abend vorgestellt wurde. Der 32jährige wird zur jungen, postmodernen Avantgarde der japanischen Gegenwartsliteratur gerechnet, die sich zwar der japanischen Mythologie und Geschichte wieder zuwendet, ihr aber ebenso skeptisch gegenübersteht wie den Vorstellungen der japanischen Linken. Ein Auszug seines bisherigen Hauptwerks „Traumbändiger“ findet sich in der Sammlung „Momentaufnahmen moderner japanischer Literatur“ von Jürgern Berndt und Hiroomi Fukuzawa, erschienen 1990 im Konkursbuch-Verlag.

Die mit der japanischen Altmeisterin Taeko Kono eröffnete Literaturwoche schließt am heutigen Samstag mit einer transnationalen Kettenlesung, an der neben den LyrikerInnen Makoto Ooka und Junko Takahashi auch Elke Erb und Durs Grünbein teilnehmen werden.

20 Uhr im Foyer der Akademie der Künste, Hanseatenweg10. Der Eintritt ist frei.

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