: Die Nicaraguaner sind mit ihrem Latein am Ende
■ Ein banaler Transportstreik entwickelt sich zum allgemeinen Aufstand
Managua (taz) – Der beißende Gestank brennender Autoreifen schwängert die Luft, während Männer mit Eisenstangen Pflastersteine aus der Straße reißen und zu Barrikaden aufschichten: In Nicaragua herrscht seit Montag ein nationaler Streik der Busgenossenschaften, Taxikooperativen und Transportgewerkschaften, der auch den Individualverkehr lahmlegt. Büros und Behörden blieben weitgehend unbesetzt, Banken und Postämter geschlossen.
Die Transportgenossenschaften und Standesvertretungen aller politischen Ausrichtungen hatten den unbefristeten Streik ausgerufen, um die Regierung zur Zurücknahme einer Belastungswelle für Autofahrer zu zwingen. Auslöser: Die Einführung einer Autobesitzsteuer, die für neuere Fahrzeuge fast 500 Dollar ausmacht. Dazu kommt die in diesem Monat fällige jährliche Straßenbenutzungsgebühr (40 bis 80 Dollar), die Gebühr für neue Nummernschilder, auf denen das sandinistische „Freies Nicaragua“ durch „Nicaragua“ ersetzt wird (50 Dollar), und die zweimalige Anhebung der Treibstoffpreise. Für Taxifahrer, Busunternehmer und Kleintransporteure ist diese Kombination existenzbedrohend. Deswegen wurde der Streik spontan von allen möglichen Gruppen unterstützt. Auch die größtenteils arbeitslosen Bewohner der Armenviertel halfen beim Barrikadenbau oder streuten Nägel auf die Straße.
Eine am Dienstag kurz vor Mitternacht dekretierte Suspendierung der umstrittenen Autosteuer konnte den Streik nicht beenden. Im Gegenteil: Der zweite Tag brachte zwei Tote – bei Auseinandersetzungen auf der Carretera Norte, der Straße, die den internationalen Flughafen mit der Hauptstadt verbindet. Die Streikenden wollten mit Barrikaden Präsidentin Violeta Chamorro abfangen, die von einem Wirtschaftsgipfel in Guatemala zurückkam. Innenminister Mendieta hatte Befehl gegeben, die Demonstranten um jeden Preis zu vertreiben; als die Polizisten, die anfangs nur mit Tränengas und Schreckschüssen vorgingen, mit Steinen und scharfer Munition empfangen wurden, schossen auch sie scharf. Der Polizeikommandant Saul Alavrez fiel der Konfrontation zum Opfer. Die 41jährige Romelda Martinez, die vom Flughafen zu Fuß in die Stadt marschiert war, wurde von einem irregeleiteten Geschoß tödlich getroffen. Mehrere Personen erlitten Schußverletzungen. Die Polizei mußte schließlich das Feld räumen, Präsidentin Violeta Chamorro wurde im Hubschrauber nach Hause transportiert.
Während der sandinistische Ex- Präsident Daniel Ortega, der am Montag zu Straßenprotesten bis hin zum Generalstreik aufgerufen hatte, „das mörderische Regime“ für das Blutvergießen verantwortlich machte und den Dialog zwischen Streikenden und Regierung forderte, wies die Nationale Transportkommission ein Separatabkommen der Regierung mit zwei Transportföderationen zurück. Mittlerweile sind in Managua und anderen Städten die Lebensmittel knapp geworden, Abfälle häufen sich auf den Straßen, und immer mehr Stadtviertel sind durch Barrikadenbau in kleine Bollwerke verwandelt worden.
Nach dreieinhalb Jahren Seiltanz zwischen den Interessen der konservativen Parteien und der Sandinisten, eingeengt durch Auflagen der Weltbank und der USA, destabilisiert durch die bewaffneten Aktionen einer ständig zunehmenden Zahl von Rebellengruppen und moralisch angeschlagen durch eine Serie von Korruptionsskandalen ist die Regierung Chamorro mit ihrem Latein und ihren Finanzen am Ende. Wo es geht, versucht sie den Staatsbürgern Geld herauszupressen, um eine Währungsabwertung zu vermeiden.
Für ein verzweifeltes Volk, das keinen Ausweg sieht, bietet der Streik ein Ventil, könnte aber leicht in einen landesweiten Aufstand ausarten. Ralf Leonhard
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