15.00

Der Kalif von Berlin, Hoca Can Kanma, steckte seine glatte Uhr in die Innentasche zurück, als er die Stufen der Moschee herunterkam. Fünf vor drei. Grad die rechte Zeit, um nach Neukölln zu gehen. Wie hieß der Junge doch wieder? Kaya, ah ja. Bsimillarrahmairahim. Derya Sen war da die zuständige Frau. Herrn Ceys Brief. Ja. Will ihm den Gefallen tun, wenn möglich. Guter verwendbarer Moslem. Hoca Kanma schritt am alten islamischen Friedhof vorbei. Er ging durch die Baumschatten sonnenblinkender Blätter, und ihm entgegen kam die Frau von Herrn Mustafa Akcoy.

„Sehr gut, wirklich, Hoca. Und Ihnen Hoca?“

Hoca Kanma ging es in der Tat ausgezeichnet. Nur kurz nickte er, einer absonderlichen Gewohnheit folgend, einem der ältesten Gräber des Friedhofs zu: „Hier ruht in festem Glauben an Gott mein lieber Mann, Obergeistlicher der türkischen Botschaft und Gründer des Mohammedanischen Friedhofs Hafiz Schülin, geboren zu Unijeh 1871 gest. zu Berlin 1924“. Kanman lächelte wie immer. Auf Deutsch. Und von seiner Frau! Bald danach wurden die Gräber schon zweisprachig abgefasst, dann rein türkisch. Die jüngsten Gräber am Columbiadamm tragen nur noch arabische Schriftzeichen.

Die Zeiten der Verwirrung liegen hinter uns, dachte der Hoca zufrieden. Die Jugend steht im Glauben fest. So fest, dass einige Eiferer den eigenen Eltern deren Buletten und Kompromisse vorwarfen. Ungerecht, dachte der Hoca, die Zeiten waren anders damals: „Die Moschee und die heutige Gestalt des Friedhofs sind das Werk der türkischen Arbeitnehmerschaft Berlin’s.“ Das Schild stammte von 1988. Damals waren alle Türken Dreher, Schweißer, Fließbandarbeiter. Heute sind ihre Söhne Gemüsehändler, Friseure, Türsteher, Arbeitslose oder Studenten. Heute war es immer noch eine Schande, einen Sohn zu haben, der kriminell wurde – aber längst keine einsame, seltene Schande mehr. Dafür haben andere ehemalige Mitglieder der türkischen Arbeitnehmerschaft Söhne, die einen korrekten deutschen Genitiv bilden können. Und auch Töchter – aber mit diesem Gedanken wollte sich der Hoca den schönen Tag nicht gegen die Wand fahren.

Oh, dass er das nur nicht vergaß. Den Brief an den Hoca Beitu.

Hoca Kanman hielt drei kleine Schuljungen an, die aus dem Volkspark auf die Hasenheide stürmten.

Das kleine Haus. Aha. Und waren sie auch schön brav in der Schule? Oh. Das hörte man gerne. Und wie hießen wir denn? Cihan Bali. Und wir? Murat Aslan? Und der andere kleine Mann? Özkan Toprak. Oh, das war aber ein sehr hübscher Name.

Hoca Kanma übergab dem jungen Cihan Bali einen Brief aus seiner Brusttasche und zeigte zum gelben Briefkasten hinüber, vor McDonald’s am Hermannplatz.

„Aber pass nur schön auf, dass du dich nicht selbst in den Kasten steckst, kleiner Mann“, sagte er.

Die Jungen besechsäugten Hoca Kanma und lachten.

„Ach, Sayin.“

„Na, dann lass mal sehen, ob du einen Brief aufgeben kannst“, sagte Hoca Kanma.

Cihan Bali rannte über die Straße und steckte den Brief Hoca Kanmas an den Hoca Beitu in das Maul des leuchtend gelben Briefkastens, und Hoca Kanma lächelte und nickte und lächelte und überquerte den Hermannplatz.

Er blickte die Karl-Marx-Straße entlang und warf einen Blick auf die jetzt leere Moschee, in der sich lange Jahre die Gläubigen getroffen hatten. Einige Nachbarn hatten weder gemerkt, dass in dieser Wohnung, die von außen wie jede andere aussah, zu Allah gebetet worden war, noch dass sie jetzt wieder leer stand. Aber die Zeit, in der die Gläubigen am liebsten unsichtbar blieben, waren vorbei. 10.000 Euro Strafe hatte das Bauamt verhängt, weil die Minarette der neuen Moschee am Columbiadamm sieben Meter höher gebaut waren als genehmigt. Die kamen an nur einem Tag durch Spenden zusammen. Die schlichten Räume in diesem Wohnhaus waren nur freitags geöffnet. Aber die große Halle unter der prächtigen Kuppel am Columbiadamm steht jedem Moslem fünf Mal am Tag fürs Gebet offen.

Hoca Kanma umrundete Dönerbude und Kiosk in der Mitte des Hermannplatzes und stieg herab in die großen Hallen. Die U 7 brachte am Freitag Männer aus Wilmersdorf und Charlottenburg zur Moschee. Auch dort wohnten jetzt Gläubige. Aber zum Gebet kehrten sie noch zurück in die türkischen Gegenden, in denen ihre Väter und Brüder wohnten.

Aber Hoca Kanma stieg nicht so tief hinab, sondern zur höher gelegenen U 8. Er saß in einer Ecke des U-Bahn-Wagens, auf einem der schmalen Sitze, die hochklappten, sobald man sich erhob – schnell und gefährlich wie Mausefallen. Er hatte den gelben Fahrschein achtsam in die Knöpföffnung seines Cüpteli gesteckt. Als er an der Boddinstraße vorbeifuhr, bedachte er den Umstand, dass die Kontrolleure ihren Rundgang ausgerechnet immer dann machten, wenn man den Fahrschein achtlos weggeworfen hatte. Kanma fiel ein, dass neuerdings auch türkische Jugendliche kontrollierten. Und Albaner. Er fragte sich, wie sie ihn ansprechen würden. Und was sie täten, träfen sie ihn ohne Fahrschein. Hoca Kanma fuhr nie ohne Fahrschein.

*

Ein Einbeiniger in Tarnhose umrundete das Eiscafé Venezia, krückte sich über die Lohmühlenbrücke und stieß sich die Weichselstraße hinab.

Claudius Prößer, der in Hemdsärmeln seinen Sohn Benjamin zum Klettergerüst auf dem Weichselplatz führte, wurde unliebenswürdig vom Einbeinigen angegrölt:

„Zivjela Srbija!“

Er schwang sich heftig voran, vorüber an Katey and Boody Dedalus, hielt an und grölte:

„Domovina i ljepota.“

Eine stämmige Dame blieb stehen, nahm eine Fünfzig-Cent-Münze aus ihrer Börse und ließ sie in die ihr hingestreckte Börse fallen. Der Mann im Tarnzeug grummelte Dank und blickte sauer zu den seiner nicht achtenden Fenstern hinauf, senkte den Kopf und schwang sich vier Schritte weiter.

Er hielt an und grölte wütend:

„Zivjela Srbija!“

Zwei Jungen in Sneakers, lange Lakritzriemen lutschend, blieben neben ihm stehen und gafften seinen Stumpf mit ihren gelb besabberten Mündern an.

*

Das schwarzhaarige Mädchen bei „Sultan Zwei. Schlesische Spezialitäten“ legte Hefeteilchen und Schrippen in zwei getrennte Papiertüten.

„Geben Sie mir noch eine Plastiktragetasche, ja?“, sagte er

„Gern, mein Herr“, sagte das schwarzhaarige Mädchen.

„So ist’s recht, Schnuckelchen“, sagte Blazes Boylan.

Sauber verpackte sie dicke Quarktaschen und zwischen ihnen runde Berliner Ballen.

Blazes Boylan ging in neuen lohbraunen Schuhen in dem duftenden Laden auf und ab.

„Liefern Sie auch? Auch sofort?“

„Sicher. Hier in Neukölln?“

„Oh ja“, sagte Blazes Boylan. Zehn Minuten.

Das schwarzhaarige Mädchen reichte ihm Adresszettel und Bleistift.

„Was macht der Spaß?“, fragte er.

Des schwarzhaarigen Mädchens schlanke Finger zählten Ballen und Quarktaschen.

Blazes Boylan blickte in den Ausschnitt ihrer Bluse. Netter junger Backfisch.

Das schwarzhaarige Mädchen musterte ihn von der Seite, lässig gekleidet, spielte mit dem Schlüssel seines BMWs. Sie errötete.

„Gern, mein Herr“, sagte sie.

Sie bückte sich durchtrieben und zählte erneut Quarktaschen und Ballen.

Blazes Boylan blickte mit größerem Wohlgefallen in ihre Bluse, den BMW-Schlüssel jetzt zwischen seinen lächelnden Zähnen.

„Darf ich vielleicht mal ein Wort mit Ihrem Telefon reden, Fräuleinchen“, fragte er spitzbübisch.

*

Mr. Bloom wandte müßig Seiten der Elementarteilchen um, dann von Aristoteles’ Meisterwerk. Schlampiger, pfuscherhafter Druck. Stiche: Kinder, zu einer Kugel zusammengekauert in blutroten Gebärmüttern, wie die Leber geschlachteter Kühe. Massen davon sind wie die in diesem Moment, in der ganzen Welt. Alle mit ihren Schädeln am Stoßen, um da rauszukommen. Jede Minute wird ein Kind geboren irgendwo. Frau Schneider.

Er legte beide Bücher beiseite und warf einen Blick auf das dritte: Plattform von Michel Houellebecq.

„Das hatte ich schon“, sagte er und schob es fort.

Der Händler ließ zwei Bände auf den Ladentisch fallen.

„Das sind zwei gute“, sagt er.

Zwiebeln seines Döner-Atems kamen über den Tisch aus seinem Mund. Er bückte sich, um aus den anderen Büchern ein Bündel zu machen, hätschelte sie gegen seine aufgeknöpfte Weste und trug sie vom Tapeziertisch auf dem Bürgersteig hinein in seinen Laden.

Mr. Bloom, allein, sah sich die Titel an. Das sexuelle Leben der Catherine M. Das wäre nach ihrem Geschmack. Woll’n mal sehen.

Er las, wo sein Finger aufgeschlagen hatte.

Mit der Verbissenheit eines jungen Rekruten empfand ich das Vögeln als einen Lebensstil, ich meine das häufige Vögeln mit innerer Offenheit, egal, mit welchem Partner.

Ja. Das. Hier. Mal versuchen.

Schließlich traf ich mit Eric über einen anderen gemeinsamen Freund zusammen, einem sehr kräftigen Jungen, mit dem ich anstrengende Nächte erlebt hatte – einer von der Sorte, die mit der Kraft und dem Rhythmus einer Maschine bumsen.

Ja. Nehmen wir das. Den Schluss.

Der Grund war mir augenblicklich klar: Dass mein wirklicher Körper vollends mit den vielen flüchtigen Blicken zusammenfiel, bereitet mir die höchste Lust.

Mr. Bloom las noch einmal: Wirklicher Körper mit Blicken zusammenfiel.

Wärme überschauerte ihn sanft, sein Fleisch entmutigend.

*

Stephen Dedalus strich sich über den Dreitagebart. Er saß am Bordstein der Sonnenallee. Schöne, breite Straße. Zweispurig sogar. Könnte richtig Staat machen, wer hier durchfahren würde im offenen Wagen. Aber hier kommt kein großer Mann vorbei. Kein Star mit Fotografen. Keine Fußballer, die einen gewonnenen Pokal in Schritt fahrenden Cabrios präsentieren. Wer gewonnen hat, macht, dass er wegkommt aus Neukölln. Nimmt sich nicht einmal Zeit, seinen Sieg zu zeigen. Kein König hier, nur Loser. Nicht einmal ein kleiner König. Oder ein Vizekönig.

*

Hoca Kanma schritt schnell zur U-Bahn zurück. Schnell und zufrieden. Der kleine Kaya würde bei Ali Baba gut versorgt sein. Dort gibt es die fünf täglichen Gebete, Erzieherinnen mit Kopftuch und natürlich Essen ohne Schwein. Und viele andere Kinder natürlich. Koray Kaya, den sie gestern erst unter die Erde gebracht haben, konnte zumindest seinen Sohn in guten Händen wissen.

Hoca Kanma beschleunigte seinen Schritt. Er durfte nicht zu spät kommen zum vierten Gebet des Tages.