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Statt Gesundheitsschutz Leidensdruck?

■ Nicht nur von Rechts wegen umstritten: Die kostenlose Verteilung von Einwegspritzen an Drogenabhängige als Prävention gegen AIDS

Von Irene Stratenwerth

Hamburg (taz) -“Rein von den Argumenten her könnte man soviel pro wie contra aufzählen.“ Der Hamburger Drogenbeauftragte Jürgen Kornbrodt windet sich. Bevor er sich selbst eine Meinung bilden kann, soll erstmal die Rechtsabteilung seiner Behörde Stellung nehmen. Was ihn so ins Schwitzen bringt, ist eine von den Mitarbeitern einer Hamburger Übernachtungsstätte praktizierte, vom Nordrheinwestfälischen Sozialministerium empfohlene und von der Bremer Staatsanwaltschaft strafrechtlich verfolgte Maßnahme: Die Verteilung von sterilen Einwegspritzen an Drogenabhängige als Präventionmaßnahme gegen die Infektion mit dem Aids Virus HTLV–III–5. Der Hintergrund für die neuerdings wieder verstärkt aufkommenden Auseinandersetzungen um eine einfache und kostengünstige Maßnahme des Gesundheitsschutzes ist dramatisch: Etwa 30 - 50 sich in der Bundesrepublik bislang auf HTLV–III–Antikörper untersuchen ließen, sind „positiv“. Wenn die Theorie von den „Co– Faktoren“ (Ernährung, andere Krankheiten etc.), die zum Ausbruch der Krankheit beitragen, stimmt, dann muß befürchtet werden, daß Drogenabhängige aufgrund ihrer desolaten sozialen und gesundheitlichen Gesamtsituation noch weit häufiger erkranken werden als Angehörige anderer „Risikogruppen“. Derzeit wird von einem allgemeinen Erkrankungsrisiko der „Positiven“ zwischen acht und 40 Die Infektionsursachen sind unstrittig. Der gemeinsame Gebrauch von Spritzbestecken wird von Fixern nicht aus rituellen Gründen (wie es der Fachausdruck vom „needle–sharing“ suggeriert), sondern aus purer Notwendigkeit praktiziert. Ganz besonders gilt dies für Strafanstalten. Aber auch auf dem „freien Markt“ werden Einwegspritzen, die in Apotheken erhältlich und nicht rezeptpflichtig sind (Stückpreis ca. 30 Pfennig), für Drogenabhängige seit Jahren künstlich verknappt. Hinter der von vielen Apothekerkammern ausgesprochenen Empfehlung, keine Spritzen an Abhängige zu verkaufen steht die Vorstellung, daß zum Ausstieg aus der Drogenabhängigkeit nur motiviert werden kann, wem der Sucht–Alltag möglichst schwer gemacht wird. Diese unter Praktikern äußerst umstrittene „Leidensdruck–Theorie“ hatte auch vor AIDS für die Betroffenen bittere gesundheitliche Konsequenzen wie z.B. häufige Hepatitis–Infektionen (“Gelbsucht“) und Spritzenabzesse. Die Verteilung von Einwegspritzen durch Drogenberatungsstellen o.ä. könnte einen Effekt haben, der über die Lockerung der Verkaufspraxis in Apotheken (wie sie inzwischen von der Hamburger Apothekenkammer empfohlen wurde) hinausgeht: Ein deutliches Signal für die Abhängigen, die Infektionsgefahr ernstzunehmen. Dagegen argumentiert z.B. die „Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahr“ auch noch angesichts von AIDS, indem sie meint, Drogenberater dürften nicht „zum Komplizen der Sucht werden“. Auch der Berliner Drogenbeauftragte Wolfgang Heckmann hält die Spritzenabgabe durch die professionellen Helfer für ähnlich absurd „wie wenn man einem Alkoholiker einen Satz Likörgläser schenken würde“. Therapie soll nach dieser Auffassung das einzige Hilfsangebot für die Betroffenen bleiben. (Über–Lebenshilfen für die jenigen, die eine stationäre Langzeittherapie mit ihren vielfältigen Einschränkungen der persönlichen Freiheit z.B. aufgrund mancher negativer Therapieerfahrung nicht auf sich nehmen wollen oder können, gelten dieser Diskussionsrichtung nur als „Verlängerung der Sucht“. „Ziele wie Drogenfreiheit und soziale Integration werden absurd, wenn dabei das gesundheitliche Wohlergehen der Drogenabhängigen und ihre Überlebenschancen auf der Strecke bleiben,“ schreiben dagegen die Mitarbeiter der Hamburger Übernachtungsstätte „Swartenhorst“. Um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, hat man dort mit der Spritzenabgabe vor einigen Wochen begonnen. Damit sind die politisch Zuständigen (z.B. die Hamburger Gesundheitsbehörde), die seit zwei Jahren um das Problem wissen, aber nicht handeln, zu ei ner Stellungnahme gezwungen, die für Ende September erwartet wird. Auch der „Arbeitskreis Kommunale Drogenpolitik e.V.“ in Bremen, der vor zwei Jahren die erste öffentliche Spritzenverteilung als Straßenaktion initiierte, wollte nicht länger auf Grünlicht von seiten der Behörden warten. Mitte September wurde an fünf Tagen eine Spritzenumtausch– Aktion auf der Drogenszene im Ostertorviertel durchgeführt. Die Drogenberatungstelle und die Bremer AIDS–Hilfe beteiligten sich nicht an der Aktion. Bereits am ersten Tag erschienen 13 Beamte des Rauschgiftdezernates, „beobachteten“ die Situation, bedrohten Abhängige, die das Angebot wahrnehmen wollten mit ihrer Registrierung und beschlagnahmten schließlich die ausliegenden Spritzbestecke. Gegen den Sozialwissenschaftler und „Arbeitskreis“–Vertreter Klaus Schuller wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Schon vorab hatte der Bremer Oberstaatsanwalt in einer schriftlichen Stellungnahme „die Abgabe von Spritzen zum Zweck des unerlaubten Betäubungsmittelverbrauches“ als illegal gewertet und angekündigt, „gegen alle verfolgbaren Straftaten“ einzuschreiten. Hiermit stellt er sich in Widerspruch zu dem Nordrhein– Westfälischen Justizminister, der seinerseits verlauten ließ, die Spritzenausgabe sei als „straflose Beihilfe zu einer ohnehin nicht strafbaren Handlung“ zu verstehen. (Der Konsum von Betäubungsmitteln allein ist nämlich nicht strafbar, wie etwa Erwerb, Besitz etc. In Bremen jedenfalls wurde die Aktion trotz des raschen polizeilichen Zugriffs fortgesetzt und verlief an den weiteren Tagen ohne Störungen und unter regem Zuspruch der Betroffenen. Die Bremer Lokalpresse berichtete überwiegend positiv. Dazu haben sicherlich auch jüngste Veröffentlichungen über Untersuchungsergebnisse aus anderen Ländern beigetragen: Aus Dänemark, wo mit der kostenlosen Spritzenabgabe frühzeitig begonnen wurde, werden Infektionsraten von „nur“ 15 Einwegspritzen rezeptpflichtig sind, liegen sie, wie in der Bundesrepublik, bei ca. 50 denen sich auch diejenigen auseinandersetzen sollten, die - wie Heckmann und die „Deutsche Hauptstelle“ - behaupten, die Spritzenabgabe werde sowieso kaum einen praktischen Effekt haben. In den Kreisen der engagierten Befürworter wird derzeit kaum noch bezweifelt, daß sich die Maßnahme durchsetzen lassen wird. Es ist nur eine Frage des Zeitpunktes. Und der spielt eine entscheidende Rolle. Eindringlich weist der dänische Arzt und „Regierungsexperte“ Peter Ege darauf hin, daß Prophylaxe nur dann wirklich helfen könne, wenn noch nicht der Großteil einer „Risikogruppe“ infiziert sei. Wenn nämlich jeder - auch weiterhin zu erwartende - „Fehltritt“ mit hoher Wahrscheinlichkeit „schicksalschwere Konsequenzen“ habe, sei der „point of no return“ erreicht: „Und dann wird die Infektion sich ausbreiten, nahezu ungeachtet dessen, was man unternimmt.

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