: Atom–Unfälle auf hoher See keine Seltenheit
■ US–Marine bestätigt 628 nukleare „Vorfälle“ und zwei Unfälle zwischen 1965 und 1985 auf ihren Schiffen / 420 nukleargetriebene Schiffe kreuzen die Weltmeere, 85 Atom–U–Boote verstecken sich in ihren Tiefen / Seit Jahren Gerüchte über Unfälle bei der sowjetischen Marine
Vor wenigen Wochen hat das „Center for Investigative Reporting“ in den USA eine erste umfassende Übersicht über die durch die nuklearen Marinestreitkräfte der Welt verursachten Unfälle und Umweltverseuchungen veröffentlicht. Was da zusammengetragen wurde, steht in schroffem Widerspruch zur seit 30 Jahren wiederholten Behauptung der US– Marine, ihre nukleare Flotte wäre sicher. Heute gibt es weltweit 420 nukleargetriebene Schiffe, die von fast 600 Kernreaktoren angetrieben werden. Die Tendenz ist steigend. Nukleargetriebene Schiffe erfahren eine Vielzahl von Schwierigkeiten auf hoher See wie zum Beispiel Überflutungen, Brände und mechanische Störfälle, die nukleare Unfälle hervorrufen können. Die US–Marine gab vor kurzem zu, daß es zwischen 1965 und 1985 zu 628 nuklearen „Vorfällen“ und zwei Unfällen gekommen ist. Die Veröffentlichung dieser Zahlen wurde durch eine Klage von „American Friends Service Committee“ in Hawai, dem lokalen Ableger der US–weiten Friedensorganisation der Quäker, erzwungen. Streng geheim Neben der zivilen Atomindustrie gibt es in den USA heute eine gewaltige, nahezu ausschließlich sich selbst überwachende Marinebürokratie, die insgesamt 154 schwimmende Kernreaktoren und neun auf dem Land zu Ausbildungszwecken betreibt - also fast doppelt soviel wie die von den zivilen Energiekonzernen betriebenen Reaktoren. Die Geheimhaltungsstufe dieser Projekte ist erst vor kurzem von „vertraulich“ auf „geheim“ angehoben worden, wodurch die Marine Berichte über mögliche Unfälle noch stärker als bisher zensieren oder gänzlich unterdrücken kann. Während das zivile Gegenstück zur Nuklearmarine, die Nuclear Regulatory Commission (Nuklearkontrollbehörde) relativ häufig Berichte über nukleare Unfälle veröffentlicht, verweigert die US– Marine die Bekanntgabe entsprechender Berichte für ihre Nuklearflotte. Gegenwärtig streifen 85 nukleargetriebene U–Boote durch die Tiefen der Weltmeere. Dabei kann es sich um Routinepatrouillefahrten oder um streng geheime Kundschaftsfahrten handeln. Jedes dieser neuen U–Boote der Typhoon– und Trident–Klasse ist in der Lage, fast 200 Großstädte zu vernichten. Binnen zehn Minuten nach Erhalt eines entsprechenden Befehls durch den US–Präsidenten vermag ein U–Boot der Trident–Klasse auf eine Seetiefe von 30 Meter emporzusteigen, seine Raketen abzuschießen und eine ganze Nation in 7.500 Kilometer Entfernung praktisch zu vernich ten. Die gesamte Politik der Abschreckung beruht weitestgehend auf der nahezu vollständigen Unverletzbarkeit dieser U–Boote. Doch selbst diese nukleargetriebenen U–Boote sind keineswegs unfehlbar. Die USA haben bereits zwei nukleargetriebene U– Boote mitsamt ihren ganzen Besatzungen auf hoher See verloren; die SU hat bereits mindestens vier verloren. In allen Fällen bleiben die eigentlichen Ursachen unbekannt. Bekannt ist jedenfalls, daß es außerdem zahlreiche Beinaheverlustfälle gegeben hat. Atom–U–Boote spielen ein gefährliches Katz–und–Maus–Spiel unter Wasser, bei dem die Abwehrsysteme und Strategien des Gegners immer wieder geprüft werden. In einem nachrichtendienstlichen Bericht des US–Kongreßes aus dem Jahre 1976, von dem durch eine Indiskretion Teile an die Presse gelangten, wurde berichtet, daß in dem vorausgegangenen Jahrzehnt US–U–Boote mit insgesamt neun „feindlichen Schiffen“ zusammengestoßen sind. Bei fünf dieser Kollisionen wird vermutet, daß es sich um sowjetische Atom–U–Boote gehandelt hat. Über 42 solcher Vorfälle wurde in einer Studie über Kernwaffenunfälle berichtet, die 1977 vom Stockholmer International Peace Research Institute (SIPRI) veröffentlicht wurde. Eine Durchsicht von Presseberichten und ähnlichen Quellen aus dem Jahre 1986 förderte 99 weitere Vorfälle ans Tageslicht, darunter 46, die sich im unmittelbaren Zusammenhang mit dem nuklearen Antrieb ereigneten. Kernreaktor– Verschmelzung Gerüchte über ernsthafte Atomunfälle und starke atomare Strahlenbelastungen bei der sowjetischen Marine kursieren seit Jahren. Doch erst in den letzten Jahren haben US–Behörden damit begonnen, hierüber Informationen an die Öffentlichkeit zu geben. 1982 berichtete US–Marineminister John Lehmann der Presse, daß die sowjetischen „Sicherheitsstandards“ - auch die für die Mannschaften - viel niedriger sind als bei US–Atom–U–Booten. Es soll einige Vorfälle mit Gesundheitsschäden gegeben haben. Seit den Enthüllungen von Lehmann haben sowohl die US–Marine als auch der CIA Berichte veröffentlicht, in denen eine Reihe von ernsthaften Nuklearunfällen in der sowjetischen Marine dokumentiert sind. Darunter befindet sich die erste bestätigte Meldung über eine Kernreaktorverschmelzung auf hoher See. Die Reaktorverschmelzung, die sich an Bord des sowjetischen Eisbrechers Lenin etwa im Jahre 1967 ereignete, soll zwischen 27 und 30 Menschenleben gefordert haben und außerdem aufgrund der radioaktiven Verseuchung den Eisbrecher auf Jahre unbrauchbar gemacht haben. Die US–Nuklearflotte hat trotz aller Behauptungen ihrer unfallfreien Geschichte auch ihren Teil an nuklearen Unfällen auf hoher See erlebt. Ein US Angriffs–U– Boot, die Skorpion, versank mit der geamten Mannschaft im Jahre 1968 unter mysteriösen Umständen. Nach der offiziellen Politik der Marine werden keine festen Nuklearabfälle mehr auf See verklappt. Jedoch werden routinemäßig von der Marine hochradioaktive Harze, die als Filter für das Reaktorkühlwasser dienen, über Bord geworfen. Einst beabsichtigte die US–Marine die Versenkung von mehr als 100 Atom–U– Booten - mit intakten Reaktoren - vor den Küsten Amerikas. Die Opposition unter Fischern, Umweltschützern und Küstenbewohnern war so groß, daß die Marine ihren Plan zurückzog und sich für die Beseitigung der Schiffe auf Land entschied. Obwohl es keine geplanten Schiffsfriedhöfe auf See für Atom–U–Boote geben wird, hat die Marine jahrelang anderen radioaktiven Abfall ins Meer geworfen. Von 1946 - 1970 wurden mehr als 98.000 Behälter mit radioaktivem Müll - viel davon aus Marinewerften und Atomlabors - an mindestens 50 Stellen vor den Küsten Amerikas ins Meer geworfen. Übersetzung Dieter Brünn, überarbeiteter Bericht aus: On Guard 1/86
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