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„Land unter“ in der Wesermarsch

■ Nach Verden geht es nur noch mit dem Boot / Das Aller–Weser–Dreieck wurde zum See / „Das Wasser rauscht, wenn es über die Straßen fließt“ / Milch wird mit Booten zur Molkerei gebracht / Noch keine Katastrophenstimmung

Aus Verden K. Fitsche

„Es ist ein wunderschöner Blick von hier oben.“ Schon das dritte Mal nutzt die Angestellte des Verdener Landkreises die Kaffeepause, um in das oberste Stockwerk des modernen Verwaltungsgebäudes zu steigen. Eine solche Aussicht hatte sich von der Kantine des Hochhauses seit Jahren nicht mehr geboten. Das Aller– Weser–Dreieck, 30 km südlich von Bremen, bildet eine große Wasserfläche. Die sonst eher schmale Aller, die sich in zwei dünnen Armen um die Reiterstadt schlängelt, hat sich in einen breiten grauen Strom verwandelt. In die Altstadtgassen dringt schon das erste Wasser. Sandsäcke sollen in der „Alten Fischerstraße“ das schlimmste verhüten. Doch die Fachwerkhäuser sind nasse Fundamente gewöhnt. Der Wasserpegel hat gerade den Stand von 1981 erreicht. Wenige der Bewohner erinnern sich noch an das „Jahrhundertwasser“, als die Flut in die Wohnstuben stieg, ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs: „Das war eine richtige Flut. Aber damals kam ja alles auf einmal.“ Ob sich für Schüler des Nachbarortes Thedinghausen, die täglich nach Verden zum Gymnasium pendeln, die Weihnachtsferien verlängern, war am Dienstag noch offen. Der Schulbus kommt nicht. Die Straße versinkt in der unendlichen Seenfläche. Von hier ragt das weit sichtbare grüne Kup ferdach des Verdener Doms in diesen Tagen über eine unerreichbare Wasserburg. Doch die Feuerwehr, nicht nur zur Stelle, wenn die Schule brennt, könnte ihnen den Spaß verderben. Bei der Verwaltung stellt man bereits Überlegungen an, mit Feuerwehrbooten dafür zu sorgen, daß die Schüler nichts versäumen. Im eingeschlossenen Verdener Ortsteil Eissel hat der Gastwirt Heinz Schröder den Außenborder aus dem Schuppen geholt und mit seinem Flußfischerboot einen Pendeldienst für die etwa 200 Einwohner eingerichtet. Dicht gedrängt sitzten die Eisseler auf den schmalen Bänken des Kahns. Und auch für die schweren Milchkan nen muß noch Platz bleiben. Nicht nur hier können die Bauern ihre Milch nur noch in Booten rechtzeitig zur Molkerei bringen. Der Hobbyfährmann hat gut zu tun. Bei einem Fahrpreis von 1 DM liegt sein Selbsthilfeunternehmen weit unter dem Bustarif der Verden–Walsroder Eisenbahn. Das große Geschäft machte allerdings die Bundesbahn an den Fahrkassenschaltern im 30 km südlicher gelegenen Nienburg. Prominenteste Fahtgäste des Wochenendes waren ein Hochzeitspaar, dessen feierlicher Bund fürs Leben fast ins Wasser gefallen wäre. Zwischen der Traukirche und dem Ort, in dem die Hochzeitstafel bereits gedeckt war, floß das tiefe Wasser. Doch als alle vom anhaltenden Tauwetter redeten, hatte die Bahn einen Schienen–Nahverkehr über den aus der Wasserwüste ragenden Bahndamm und die Eisenbahnbrücke eingerichtet. Andere Weserbrücken zwischen Nienburg und Bremen bleiben wie 67 Landes– und Bundesstraßen vorraussichtlich auch in den nächsten Tagen gesprerrt. „Der Kreis ist regelrecht in zwei Hälften geteilt“, berichtet ein Vertreter des Landvolkes. Die Bauern hoffen, daß sich der bereits ausgesäte Winterweizen durch das frühe Eintreffen des Hochwassers in der Wesermarsch wieder erholt. „Katastrophenstimmung“, winkt der Bauernsprecher ab, herrschen noch nicht. Aber „wat den eehnen sien Uhl“, wie man hier sagt, „is den annern sien Nachtigall“: „Das Wasser rauscht richtig, wenn es über die Straße fließt“, berichtet ein Familienvater von seinem Wochenendausflug zum Hutberger Neujahrsee. Er freut sich schon auf den Frost. „Wenn es jetzt richtig kalt wird, haben wir das größte Schlittschuhparadies in ganz Norddeutschland.“

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