: Die Odyssee der strahlenden Molke
■ Radioaktives Molkepulver soll nicht von Bremen verschifft werden / Ein Zug beschäftigt die Republik Keiner will das Pulver haben / Niemand ist zuständig / Die Deutsche Bundesbahn als Endlager
Berlin (taz) - Einhundert Eisenbahnwaggons mit radioaktiv belastetem Molkepulver stehen vor den Hafenanlagen in Bremen. Fünfzig warten in der Domstadt Köln auf einen Abnehmer. Und weitere hundert haben das Abstellgleis des Wasserburger Güterbahnhofs noch nicht verlassen. Das macht insgesamt 5.000 Tonnen strahlende Erblast aus Tschernobyl. Wo der Butterabfallberg herkommt, ist bekannt: aus der Molkerei. Nur wo er hinsoll, darüber scheiden sich die Geister. „Nicht in die Dritte Welt“, sagt der Bremer Bürgermeister Klaus Wedemeier. Aus seinem Hafen soll das Pulver nicht nach Ägypten verschifft werden. Die Strahlenmeßstelle an der Bremer Universität hatte eine Cäsium–Verseuchung von 5.836 Becquerel ermittelt. Eine so hohe Belastung, so der Bürgermeister, stelle auch eine Gefährdung für die Bremer Arbeitnehmer dar. Der Senat folgte einem Dringlichkeitsantag der Grünen. Das Pulver war sicherzustellen. Die Bremer Spedition Grunau Industrieservice aber bleibt nur „Zwischenlager“. Die Hansestadt will die pulverisierten Radionuklide so schnell wie möglich loswerden. 210.000 DM hat die Fahrt des über einen Kilometer langen Zuges von Bayern nach Bremen gekostet. Der Senat hat der Spedition eine Bürgschaft zugesagt. Doch damit ist das Gleis nicht frei. „Wir haben keine Möglichkeit, das Pulver einfach zum Sondermüll zu erklären“, so offenbart die Sprecherin der Bremer Umweltbehörde, Christiane Ak, Hilflosigkeit, „denn es wird ja im Momment als Wirtschaftsgut gehandelt. Das wäre ja faktisch eine Enteig nung.“ Ein einmaliger Fall in der Geschichte der Hanse. Auch der nordrhein–westfälische Umweltminister Klaus Matthiesen ist über den Kölner Gütereingang unglücklich. Er will die Waggons zum Inn schicken. Aber seine Strahlenmeßtrupps dürfen nicht an die Waggons. „Eine Anweisung aus Rosenheim an die Bahn. Und die ist Hoheitsträger. Man war die Molke gerade glücklich losgeworden. Die zündende Idee der Bayerischen Staatskanzlei, es durch eine Müllverbrennungsanlage zu jagen, verpuffte unter dem Protest anliegender Kommunen. Die Bundesbahn war großzügig. Da die fahrende Deponie zuviel Standgebühr gekostet hätte, wurden überzählige Waggons für drei Mark pro Tag plus Mehrwertsteuer vermietet. Ein Antrag der Grünen auf „ordnungsgemäße Entsorgung“ wurde im Bayrischen Landtag von der CSU abgelehnt. In anderen Bundesländern, so erklärte jetzt der bayerische Umweltminister Alfred Dick, seien ähnlich hochverstrahlte Produkte schließlich auch in die Nahrungskette gelangt. Aber wohin mit dem radioaktiven Molkepulver? „Das ist eine gute Frage“, bescheinigt der Sprecher des Bundesumweltministers Wallmann, Diehl, der taz, „die sich aber nicht an das Umweltministerium richtet.“ Die Firma hat bereits Entschädigung bekommen. Man solle es doch einmal bei Frau Ministerin Prof. Dr. Rita Süßmuth versuchen. Aber die Gesundheitsministerin fühlt sich nicht zuständig, und auch im Bundesverkehrsministerium weiß man bislang nicht, wer das Pulver aus dem Verkehr zu ziehen hat. Kuno Kruse Siehe Querspalte Seite 4
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