piwik no script img

Wachsendes Interesse am Demjaniuk–Prozeß

■ Israelisches Fernsehen begann mit Direktübertragungen aus dem Kriegsverbrecherprozeß / Kreuzverhör der Treblinka–Überlebenden stoßen auf Ärger im Publikum / Verteidiger unterstellt den Zeugen, „durch Mythen und das kollektive Gedächtnis“ geprägt zu sein

Aus Tel Aviv Amos Wollin

Zwei Wochen nach Beginn des Prozesses gegen den mutmaßlichen Kriegsverbrecher John Demjaniuk ist das Interesse der israelischen Öffentlichkeit deutlich gestiegen. Auf Anweisung von Ministerpräsident Shamir wurde ein zweiter Saal im Jerusalemer „Gebäude der Nationen“ für die zahlreichen Besucher des zweiten großen Kriegsverbrecherprozesses zur Verfügung gestellt. Im Rundfunk wird der gesamte Verlauf des Verfahrens übertragen, und seit Dienstag hat auch das israelische Fernsehen mit Live–Sendungen begonnen. Zuvor hatte der Oberste Gerichtshof das staatliche Fernsehen aufgefordert, zu erklären, warum der Prozeß nicht übertragen wird. Das Gericht war auf Antrag einer Initiative von KZ–Überlebenden tätig geworden. In Israel ist es dem Fernsehen gesetztlich vorgeschrieben, über Ereignisse von geschichtlicher Bedeutung oder besonders erzieherischem Wert zu berichten. Zu Prozeßbeginn waren die Fernsehchefs noch der Auffassung, es gäbe kein sonderliches Publikumsinteresse. Die Aussagen der drei Zeugen der Staatsanwaltschaft, die bisher in dem Verfahren aufgetreten sind, enthielten erschütternd detaillierte Berichte über die Massenvernichtung von Juden in den Gaskammern von Treblinka unter Aufsicht des ukrainischen Sadisten im Dienste der SS, „Iwan der Schreckliche“. Das Verfahren in Jerusalem soll klären, ob der amerikanische Staatsbürger Demjaniuk, der 45 Jahre später auf der Anklagebank sitzt, mit dem Folterknecht identisch ist. Demjaniuk hatte sich nach Angaben der Polizei vor einem Jahr als „kleines Rädchen“ bezeichnet, das im Zweiten Weltkrieg nur Anwei sungen gefolgt sei. Das Publikum im Saal setzt sich aus älteren Leuten europäischer Herkunft, Kindern der damaligen Opfer, Studenten und Wissenschaftlern, Schaulustigen, Berichterstattern und politischer Prominenz zusammen, für die die ersten Reihen reserviert sind. Hier scheint kein Zweifel zu herrschen: Der schwere Mann mit dem speckigen, starren Nacken, der hinter seinen Verteidigern sitzt und aufmerksam, aber scheinbar unberührt und gleichgültig der Übersetzung des Verfahrens zuhört, das muß „Ivan Grozny“, der Killer von Treblinka sein. US–Verteidiger Mark OConnor bemüht sich, nachzuweisen, daß die Zeugen der Anklage nach so langer Zeit nicht mehr in der Lage sein können, in dem 67jährigen Demjaniuk den 22jährigen Ivan der Gaskammern wiederzuerkennen. Die Zuschauer rea gieren ärgerlich auf die Kreuzverhöre der greisen Zeugen durch OConnor, dessen demonstrative Höflichkeit als provokativ empfunden wird und selbst den geduldigen Richter Lewin irritiert. OConnor scheint sich mit Demjaniuk zu identifizieren. Er ist von seiner Unschuld überzeugt und beschreibt ihn als einen einfachen, gutmütigen und gläubigen Familienvater mit reinem Gewissen. Der Anwalt wartet mit Unge duld auf seinen eigenen Auftritt vor Gericht. Den von den sowjetischen Behörden zur Verfügung gestellten Nazi–Ausweis Demjaniuks bezeichnet OConnor als „KGB–Fälschung“. In einem späteren Stadium des Prozesses, vermutlich im April, wird der Verteidiger seine eigenen Zeugen vorführen, die aussagen wollen, daß Demjaniuk nie in einem Vernichtungslager gewesen sei. Zu den Zeugen der Anklage bemerkt OConnor, daß sie durch „traumatische Erlebnisse, durch Mythen und das kollektive Gedächtnis der dazwischenliegenden Jahre geprägt worden sind: Sie haben sich Verteidigungsmechanismen zum Schutz ihres eigenen Ego gebaut“. Genau das gleiche hätte er allerdings über seinen Mandanten sagen können. Auch seine Identität hat auf dem langen Weg aus der Urkaine über Nazi–Deutschland in die USA und nun nach Jerusalem Metamorphosen durchgemacht - falls er mit „Ivan Grozny“ identisch ist, hat er seine Vergangenheit längst verdrängt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen