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EG–Länder schotten sich gegen Flüchtlinge ab

■ Heinz–Oskar Vetter, Asylbeauftragter des Europäischen Parlaments, legt seinen Bericht vor / Heftige Kritik an Sammellagern, Arbeitsverbot und Beschränkungen der Bewegungsfreiheit / Ständiger Asylbeauftragter beim Europäischen Parlament gefordert

Aus Straßburg Thomas Scheuer

Fast schien es, als solle die traurige Bilanz des Asylbeauftragten des Europäischen Parlaments noch kurzfristig weiter verschlimmert werden: Kürzlich drohte die britische Regierung im Zuge verschärfter Visavorschriften den Fluggesellschaften, die Passagiere ohne gültige Visa einfliegen, Strafen von 1.000 Pfund pro Flüchtling an; Belgien kündigte soeben an, die Einreiseformalitäten künftig auf die fernen Startflughäfen oder ins Flugzeug vorzuverlagern. Die beiden Regierungen durchlöchern mit ihren „verurteilenswerten panischen Maßnahmen“ (so ein britischer Abgeordneter) das in der Genfer Flüchtlings–Konvention (GFK) verankerte Prinzip des „Non–Refoulements“, also der Nicht–Zurückweisung von Flüchtlingen an den Grenzen. Eine Tendenz zu Verstößen gegen dieses Prinzip benannte der SPD–Abgeordnete und Ex–DGB– Chef Heinz Oskar Vetter als Asylbeauftragter des EP in seinem ausführlichen Bericht zur Lage des Asylrechts in der Gemeinschaft neben dem gegenseitigen Abschieben als Kennzeichen für die Asylpolitik der meisten EG–Partner. Nach rund zweijähriger Arbeit wurde der vielgelobte Report am Mittwoch und Donnerstag nachmittag in der Straßburger Versammlung debattiert. Nach Schätzungen des UNO– Flüchtlings–Hochkommissariats (UNHCR) in Genf gibt es weltweit derzeit etwa 17–20 Millionen Flüchtlinge. Nach den UNHCR– Angaben lebten 1986 in der EG rund 533.200 nach den Kriterien der GFK anerkannte Flüchtlinge; zählt man De–facto–Flüchtlinge und nicht erfaßte Asylsuchende hinzu, könnte sich eine Zahl von einer Million ergeben. Seltsame Widersprüche tun sich im Fall der Bundesrepublik auf: Während die UNO–Experten am 1.1.86 hier 134.000 gemäß GFK anerkannte Flüchtlinge ermittelten, gab das Bonner Innenministerium die Zahl der Flüchtlinge mit und ohne Rechtsstatus nach der GFK mit 605.000 (Stand: 30.9.85) und 670.000 (Stand: 11.9.86) an. Eine solch grasse Abweichung von der Statistik des UNHCR wurde nur in der Bundesrepublik festgestellt. Insgesamt, so Vetters grundsätzliche Kritik, gebe es „keine langfristigen Überlegungen, wie das Flüchtlingsproblem in Europa und außerhalb menschenwürdig gelöst werden kann“. Stattdessen werde „in steigendem Maße eine Politik der geschlossenen Tür praktiziert“. Doch der Versuch, durch nationale Regelungen polizeilicher und administrativer Art, dieses internationale Problem lösen zu wollen, müsse scheitern. Ausführlich verwies Vetter in seinem Bericht ebenso wie in seiner Rede im Plenum auf die Ursachen der Flüchtlingsfrage: „Es sind dieselben Routen, auf denen sie zu uns kommen, auf denen wir einst ausgezogen sind, die Welt zu erobern.“ Und: „Bis heute ist die wachsende Armut vieler Entwicklungsländer eine der Grundlagen des wachsenden Reichtums vieler Industrienationen.“ Auch aktuelle Krisenherde wie der Krieg Iran–Irak würden nur ermöglicht, „weil europäische und andere Staaten Waffen in die Krisengebiete liefern.“ Vetters Bericht, über den das EG–Parlament am Donnerstag abend (nach Redaktionsschluß) abstimmen wollte, fordert die strikte Einhaltung der internationalen Abkommen, insbesondere des „Nicht–Zurückweisungs– Prinzips“ durch die Behörden; Visa–Bestimmungen dürften Flucht möglichkeiten weder verhindern noch einschränken. Die Fortdauernde Unterbringung in Sammelunterkünften, längerfristiges Arbeitsverbot und Beschränkungen der Bewegungsfreiheit müßten als Verstöße gegen die Menschenwürde gelten. Organisationen, die in der Flüchtlingsarbeit engagiert sind, müßten finanziell gefördert und an der Flüchtlings– und Asyl– Politik beteiligt werden. Anerkannten Flüchtlingen sollten die gleichen Rechte und Pflichten wie EG–Bürgern zuerkannt werden. Schließlich fordert Vetter die dauerhafte Einrichtung eines Asyl– Beauftragten des Europäischen Parlamentes. Vor allem aber gelte es, im Hinblick auf den zukünftigen gemeinsamen Binnenmarkt der EG rechtzeitig ein einheitliches gemeinschaftliches Asyl–Recht zu entwickeln. Vetter erwartet von der Brüsseler Kommission spätestens 1988 entsprechende Vorschläge. Bereits in der ersten Debattenrunde am Mittwoch wurden gegen Vetters Einschätzungen und Vorschläge „schwere Vorbehalte“ (ein britischer Konservativer) in der rechten Saalhälfte laut, wobei diese sich vornehmlich auf der bekannten Schiene „Mißbrauch des Asylrechts durch Wirtschaftsflüchtlinge“ bewegten: Das Non– Refoulement–Prinzip sei zu ungenau; der Staat müsse das Recht auf Überprüfung haben; es müsse zwischen Flüchtlingen und „potentiellen Einwanderern“ aus wirtschaftlichen Gründen unterschieden werden. Auch unter den asylpolitischen Organisationen macht sich verstärkt die Erkenntnis breit, daß es langfristige Lösungen auf der nationalstaatlichen Ebene nicht gibt, daß europäische Kooperation von unten gefragt ist. Alternativen und Strategien sollen Anfang April auf dem Zweiten Europäischen Asylrechts–Symposium in Brüssel diskutiert werden.

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