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UdSSR–Journalisten fordern mehr Freiraum

■ Auf dem 6. Kongreß des sowjetischen Journalistenverbandes soll die Arbeit der Journalisten im Prozeß der Umgestaltung neu definiert werden / Hauptaufgabe soll Unterstützung der „Politik der Transparenz“ sein / Opportunismus im eigenen Lager kritisiert

Moskau (afp/ap/taz) - Mehr Freiheiten für ihre Arbeit haben am Wochenende sowjetische Journalisten auf dem sechsten Journalistenkongreß in Moskau gefordert. Führende Medienvertreter sprachen sich nachdrücklich dafür aus, daß es künftig keine verbotenen Themen, keine Einmischungsversuche durch die Behörden und mehr Unabhängigkeit von offiziellen sowjetischen Standpunkten in den Medien geben sollte. Der Iswestija–Kommentator Bowin forderte sogar, journalistisch–politische Kom mentare von den offiziellen Äußerungen der Regierung in den Zeitungen zu trennen. „Unter Stalin schrieben sie über Fünfjahrespläne, die inneren und die äußeren Feinde und über den Preisverfall. Unter Chruschtschow waren die Hauptthemen der Mais, die Erbsen, die Chemie, die Inflation. Unter Breschnew waren es brachliegende Felder, seine Heimatstadt, die Erfolgsjahre ... und heute ist es modern, die Umgestaltung zu preisen“, so und ähnlich war der Tenor in Leserbriefen, die in der sowjetischen Presse im Vorfeld des 6. Kongresses des Journalistenverbandes veröffentlicht wurden. Die in den Leserbriefen angesprochene Thematik ist die weitestgehende Kritik an den sowjetischen Journalisten, die bisher in der UdSSR veröffentlicht wurde. Sie betrifft nicht nur die Arbeit in den Redaktionen, sie ist eine Kritik, die sich auf andere Funktionäre übertragen läßt. Wird die Umgestaltung und „Glasnost“ - die neue Offenheit und Transparenz - tatsächlich so begriffen, daß die einzelnen nicht nur die von oben propagierten Thesen wiederholen sollen, sondern wirklich beginnen, eigenständig zu denken und zu schreiben? Die Hauptaufgabe der Presse sei, „die KPdSU und den sowjetischen Staat bei der Umsetzung der Politik der Transparenz“ zu unterstützen, erklärte der Verbandsvorsitzende und Chefredakteur der Parteizeitung Prawda, Viktor Afanassjew in seiner Grundsatzrede am Sonnabend und gibt damit selbst die Grenze an. „Das Vertrauen der Massen ist größer denn je“, behauptet er und hebt hervor, daß es seit einem Jahr in den Zeitungen, im Rundfunk und im Fernsehen immer mehr kritische Beiträge gebe. Es bestehe auch die Tendenz, ranghohe Persönlichkeiten zu kritisieren. Doch Afanassjew bedauerte auch, daß es weiterhin „verbotene Zonen“ - also Tabuthemen - gebe. So hielten sich besonders die Verantwortlichen der sowjetischen Raumfahrprogramme zurück. Afanassjew hätte wohl aus eigener Praxis noch viele Beispiele hinzufügen können. Auch wenn im Fall Tschernobyl nach einigem Zögern über die Katastrophe berichet wurde und nun sogar in einem Film Fernsehbilder vom Reaktor gezeigt wurden, auch wenn am Donnerstag ein Aufsatz des sowjetischen Schriftstellers Rasputin über die Verschmutzung des Baikalsees in der Prawda erscheinen konnte, so ist dennoch nicht zu übersehen, daß die „Tabuthemen“ sich nicht nur auf die Raumfahrt beschränken. Auf Diskussionsbeiträge aus dem Moskauer Friedensforum, z.B. die des dort auftretenden Physikers Andrej Sacharow, warten sowjetische Leser weiterhin vergebens. Auch über die freigelassenen Häftlinge dringen nur spärlich Nachrichten zum sowjetischen Publikum.

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