Vier Orangen und ein Film

■ Auch ein Filmkritiker muß neben geistiger Nahrung an seinen Vitaminhaushalt denken

Gestern hatte ich, der seinen Vitamin–Bedarf sonst mehr pro forma durch Vaihingers Multivitaminsaft stillt, Heißhunger auf Orangen und bin auf den Markt gegangen. Die billigsten, holzigen und dickschaligen Jaffas kosten acht Franc das Kilo. „Daraus macht man Saft“, sagt die Verkäuferin. Sie rät mir zu den Oranges de table aus Tunesien zu 16 Franc 80 das Kilo. Sie sind eher klein, aber sehr schwer, vier Stück macht ein Kilo. Sie lassen sich problemlos mit den Fingern schälen, zum Vorschein kommt die Apfelsine an sich. Man beißt rein, es ist eine Explosion. Durch die Orangen habe ich „Something Wild“ von Jonathan Demme (“Stop making sense“) verpaßt. Also bin ich in die Pressekonferenz von Mr. Martin Shea gegangen. Shea ist der Presseattache von Elisabeth II, deren Sohn und Schwiegertochter, Charles und Di, heute (Freitag) das Festival besuchen. Sie werden die ohnehin überlaufene Stadt vollends ins Chaos stürzen. Die beiden sind gekommen, um ihr königliches Interesse an der neuerlich aufblühenden englischen Filmkunst zu artikulieren, und beehren zu diesem Zweck die Galapremiere von Lindsay Anderson „The Wales of August“. Das ist in der Tat der einzige englische Film, den man ihnen hat präsentieren können, in den anderen geht es offener zu als statthaft wäre. Ein Tag im Leben zweier sehr alter Schwestern. Sarah ist die Sorgende und Fleißige, Lilly die Böse und Faule. Ihr Haus liegt auf einer Insel vor Amerika. Der Film ist ein bißchen zu geschmackvoll arrangiert, die Musik ein bißchen zu betulich, die Moral ist ein bißchen zu penetrant: Uninteressant, wären da nicht die beiden Protagonistinnen, Lilian Gish, 91, der Star von Griffiths Intolerance, als die Liebe und vor allem, Fanfaren, Bette Davis, 79, als die Kapriziöse. Es ist fast unheimlich, wie präsent sie in diesem Film ist, und das, obwohl sie ihren größten Trumpf, das Aufschlagen des Blicks mit der schnellen Wendung des Kopfs, weil sie eine Blinde spielt, gar nicht ausspielen kann. Ihre Augen sind so gut wie immer unter den Lidern oder einer Sonnenbrille verborgen. Man muß sehen, wie Bette Davis schmollend auf dem Schaukelstuhl sitzt und sich mit monotonen, ruckhaften, nicht mehr ganz beherrschten Bewegungen in Erinnerungen wiegt, oder wie sie nach einem Alptraum, laut nach ihrer Schwester schreiend, mit offenem, schlohweißem Haar aus dem Schlafzimmer stürzt. In den Momenten, in denen Bette Davis allein ist, zeigt der Film, was er eigentlich hätte sein können - wegen ihr kann man froh sein, daß es ihn gibt. Thierry Chervel