: Münchehagen und kein Ende
■ Sondersitzung des Nienburger Kreistags zum Abschlußbericht der Kripo–Sonderkommission / Neues Gutachten: Nachweis von Seveso–Dioxin jetzt auch im Wasser / Austritt auch über Deponiegase möglich
Nienburg (dpa) - Zum Dauerthema „Giftmülldeponie Münchehagen“ tagte der Nienburger Kreistag gestern nachmittag in einer Sondersitzung. Anlaß sind die schweren Vorwürfe, die die Sonderkommission (SoKo) der Kripo in ihrem seit 14 Tagen bekannten Abschlußbericht gegen den Landkreis als Aufsichtsbehörde erhoben hat. Inzwischen bahnt sich weiterer Zündstoff an. Für ein Gutachten über die Gefährlichkeit des in der Deponie eingelagerten Giftmülls, vom Landkreis Nien burg und dem Wasserwirtschaftsamt Sulingen in Auftrag gegeben, haben die Landkreis–Behörden offensichtlich unvollständige Angaben über die in Münchehagen eingelagerten Stoffe aus französischen Quellen gemacht. Professor Hanspaul Hagenmeier vom Institut für Organische Chemie der Universität Tübingen legt in seinem jetzt bekannt gewordenen Gutachten insgesamt 1.253 Tonnen dioxinhaltiger Stoffe zugrunde, die die französische Firma Rhone–Poulenc seit Mai 1979 nach Münchehagen geliefert hat. In der Landtagssitzung vom 4. Juni 1980 hatte der damalige Landwirtschaftsminister Gerhard Glup (CDU) auf eine SPD–Anfrage hin erklärt, bisher seien knapp 2.000 Tonnen giftiger Abfälle von Rhone–Poulenc in Münchehagen deponiert worden. Unerwähnt ließ Glup 192 Tonnen Filtertücher, die bei Professor Hagenmeier in der Rechnung enthalten sind. Klar ist, daß Hagenmeiers Berechnungen auf Angaben basieren, die um knapp tausend Tonnen zu niedrig sind. Nachweislich eine Lieferung fehlt dem Tübinger Toxikologen für seine Münchehagener Bestandsanalyse: 170 Tonnen gifthaltige Stoffe aus Homburg (Saarland). Dort hatte sie der Spediteur von Rhone–Poulenc 1980 auf einem stillgelegten Bahnhof „zwischenlagern“ müssen, weil Münchehagen gerade nicht aufnahmebereit war. Doch tropfte aus den abgestellten Containern das Gift (unter anderem Hexachlorcyclohexan) und sickerte ins Erdreich. Laut Soko–Bericht der Kripo wurden die Behälter ab Mai 1980 dann nach Münchehagen gebracht. Professor Hagenmeier nennt in seinem Gutachten als letztes Lieferdatum jedoch den 31. März 1980. Heinrich Bredemeier, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft „Bürger gegen Giftmüll“, bezeichnete das Gutachten als „hinfällig“, da die Berechnungen von „falschen Zahlen ausgehen“, und somit die Gefährlichkeit der stillgelegten Deponie „herunterspielen“. Bredemeier wirft den Zuständigen beim Landkreis Nienburg vor, „fast eine Million Mark Steuergelder für ein Gutachten auszugeben, das nur dazu dienen sollte, Straftaten zu verdunkeln“. Anlaß für die Beauftragung Hagenmeiers war der Austritt von Seveso–Dioxin in einem Öl–Wasser– Gemisch im August 1985 in der bislang weltweit höchstgemessenen Konzentration. In dem Gutachten des Tübinger Professors wird der Dioxinaustritt als „eher singuläres Ereignis“ bezeichnet, das sich kaum wiederholen werde. An anderer Stelle spricht Hagenmeier allerdings von dem Untersuchungsergebnis, daß auch Seveso–Dioxin in der reinen Wasserphase nachgewiesen werden konnte. Bislang war immer erklärt worden, das biologisch nicht abbaubare „Ultragift“ sei nicht wasserwegsam, könne also auch nicht, beispielsweise über austretende Sickerwässer, die Deponie verlassen. Auch die Landesregierung hatte - namentlich zu Zeiten des Landwirtschaftsministers Gerhard Glup - die Wasserwegsamkeit von Dioxin und damit die extreme Gefahr des Austritts bestritten. Hagenmeier belegt nun das Gegenteil und hält nun sogar einen Austritt des Giftes über Deponiegase für möglich. Eine Auskofferung der Deponie hält Hagenmeier dennoch für nicht ratsam. Das Gefährdungspotential der Deponie werde durch die Hebung der Gifte nur erhöht. In diesem Falle könne, da geeignete Dekontaminationsverfahren nicht zur Verfügung stünden, eine großflächige Verseuchung der Umgebung nicht ausgeschlossen werden.
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