: Cessna 172 als Testfall für Cruise Missiles
■ Mit den Umbesetzungen beim sowjetischen Militär nach dem Einflug von Rust auf dem Roten Platz greift die politische Führung in militär–strategische Auseinandersetzungen ein / Cessna–Flug verstärkt die Sorge vor der militärischen Bedrohung durch Marschflugkörper
Von Klaus Segbers
Berlin (taz) - Die sowjetische Luftabwehr kann es ihrer politischen Führung nicht recht machen. Anfang September 1983 schoß ein Abfangjäger über Sachalin einen koreanischen Passagierflieger mit 269 Menschen an Bord ab. Die Ursachen des Zwischenfalls - warum die KAL 007 soweit vom Kurs abkam und warum ein sowjetischer Pilot spät, aber dann tödlich schoß - sind bis heute ungeklärt. Jetzt, Ende Mai 1987, gelangte ein Sportflieger unbehelligt über die Staatsgrenze und den Moskauer Luftverteidigungsgürtel hinweg über den Kreml. Sein Flug wurde nicht unterbunden. In beiden Fällen gab es personelle Konsequenzen in der militärischen Führung. Im zweiten Fall jedoch bedeutendere. Der Verteidigungsminister Sokolow und einer seiner Stellvertreter, der Marschall der Luftabwehrtruppen, Koldunow, wurden am Wochenende entlassen. Sokolow, im September 1984 als Nachfolger des langjährigen und einflußreichen Verteidigungsmimnisters Ustinow berufen, galt stets als Übergangslösung. Der großflächige Umbau der sowjetischen Gesellschaft wurde erst ein vertel Jahr später eingeleitet, und wahrscheinlich war der farblose Sokolow ein Kompromißminister, auf den sich der antretende Gorbatschow, sein damaliger Konkurrent Romanow und andere Großwesire einigen konnten. Seine Ablösung kann deshalb nicht überraschen. Aber niemand im Westen hätte erwartet, daß ein weitgehend unbekannter Offizier, zuletzt Leiter der Personalabteilung im sowjetischen Verteidigungsministerium, an aller Militärprominenz vorbei zum Nachfolger so gewichtiger Vorgänger wie Trotzki, Stalin oder Schukow aufsteigen würde. Die Entscheidung für Jasow ist zunächst eine gegen den Generalstabschef Achromeev, gegen den Oberkommandierenden der Streitkräfte des Warschauer Paktes, Kulikow, und gegen den früheren Leiter der sowjetischen Truppen in der DDR, Luschew, die sämtlich erste stellvertretende Verteidigungsminister sowie profilierter und publizistisch ausgewiesener sind als Jasow. Da über ihn kaum etwas bekannt ist, läßt sich auch nicht sagen, welche Position er in den Auseinandersetzungen um die sowjetische Sicherheitspolitik einnimmt, die zur Zeit stattfinden. Hinter den Chiffren Menschheits– oder Klasseninteressen, Nuklear– oder moderne konventionelle Bewaffnung, umfassende oder ausreichende Rüstung, Ideologisierung oder Qualifizierung in der Truppe werden unterschiedliche militärisch–strategische Konzeptionen verhandelt. Die Ernennung von Jasow ist zumindest ein Zeichen dafür, daß diese Auseinandersetzungen von der politischen Führung entschieden werden. Am Versagen der sowjetischen Luftabwehr gegenüber der kleinen Cessna gibt es nichts zu deuteln. Wer mit einem Fluggerät unbehelligt über dem Kreml kurven kann, könnte dort natürlich auch andere als politische Explosionen auslösen. Das dahinterstehende Problem für die politische Führung der UdSSR sind jedoch weiterreichende unbemannte Flugkörper, die ähnlich wie das Sportflugzeug in Bodennähe Grenzen überwinden und Radarstellungen unterfliegen können. Solche Geräte wie Marschflugkörper (Cruise Missiles) gibt es in zunehmend großer Zahl, und zwar land–, see– und luftgestützt. Sie werden das intellektuelle, hochtechnologische Rückgrat der Waffenarsenale bis zur Jahrtausendwende bilden. Cruise Missiles können nuklear oder konventionell bestückt werden. Ihre Präzision ist hoch. Sie werden in Rüstungsbegrenzungsabkommen kaum zu erfassen sein. Ihre wirksame Kontrolle ist mit heutigen Verfahren nicht möglich. Die Verwundbarkeit von Führungs– und Leitzentralen gegenüber Cruise Misssiles ist hoch. Das verstärkt noch den Schock der dort agierenden Politiker. Die größte Gefahr für sie selbst droht nicht mehr nur von ballistischen Raketen über und aus den Ozeanen, sondern von diskreten und intelligenten Fluggeräten, die sich gleichsam durch die Hintertür heranschlängeln. Waffensysteme solcher Art sind stabilitätstechnisch vorerst viel beunruhigender als die meisten SDI–Programme und Gegenprogramme, die zunächst ein ökonomisches und politisches Problem darstellen. Wer aus vollem Halse über den Flug von Schleswig–Holstein nach Moskau lacht, sollte diesen Zusammenhang bedenken. Die Impotenz der teilweise gerade modernisierten sowjetischen Luftabwehr um Moskau war sicher nicht ohne Unterhaltungswert. Die Frage ist, welche Konsequenzen die neue Führung dieses Truppenteils ziehen wird, um sich nicht irgendwann selbst dem Vorwurf „unzulässiger Sorglosigkeit und Unentschlossenheit“ auszusetzen. Die andere, wichtigere Frage ist, ob die politische und militärische Führung den Vorfall womöglich als Widerlegung ihres Lernprozesses interpretieren könnte, der seit 1983 zweifellos eingesetzt hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen