: Die Mauerstadt und der Ernstfall
■ Experten–Hearing im Berliner Abgeordnetenhaus zu den Folgen eines schweren „kerntechnischen Unfalls“ in einem DDR–Atomkraftwerk / Innerhalb von zwei Stunden wäre die radioaktive Wolke über Berlin / AKW Greifswald auf der schwarzen Liste
Aus Berlin Manfred Kriener
„Im Kernkraftwerk Stendhal hat sich eine Havarie mit Freisetzung von Radioaktivität ereignet. Gegenmaßnahmen sind eingeleitet worden, den Betroffenen wird Hilfe geleistet. Das ZK der SED ist zu einer Sondersitzung zusammengetreten.“ Was in Berlin–West geschehen wird, falls diese Meldung über einen GAU oder Super–GAU im 86 Kilometer entfernten, derzeit noch im Bau befindlichen Atomkraftwerk Stendhal eines Tages Realität wird, darüber wurden am Dienstag im Berliner Abgeordnetenhaus sieben Experten befragt. Die Mehrzahl von ihnen verteilten lediglich Beruhigungspillen. Eine akute Gefahr für die Berliner Bevölkerung bestehe nicht, Evakuierungen seien nicht notwendig (allerdings angesichts der Insellage auch gar nicht durchführbar), und die Langzeitschäden hielten sich in Grenzen. Nur die beiden Wissenschaftler/innen der AKW–kritischen Gruppe Ökologie (GÖK) Hannover wichen von diesem Beruhigungskurs ab und sahen schwerwiegende Konsequenzen für Berlin. Das Hearing war eine von der Alternativen Liste initiierte Neuauflage. Bereits vor fünf Jahren waren zum Teil dieselben Experten gehört worden. Damals, vier Jahre vor Tschernobyl, war der Super–GAU von den Kernforschungszentren gerade als Hirngespinst und theoretisch unmögliches Unfallereignis bezeichnet worden. Der sachverständige Professor Aurand, Mitglied der Strahlenschutzkommission, fragte sich denn auch in dem 82er Hearing, ob Berlin–West „keine anderen Sorgen habe als ausgerechnet die Kernkraftwerke, die ungefähr 100 Kilometer von uns entfernt sind“. Jetzt mochte er diese Aussage zwar nicht wiederholen, aber er blieb bei seiner grundsätzlichen Einschätzung: Keine akute Gefahr. Langzeitschäden seien zwar zu befürchten, man könne sie aber nur schwer quantifizieren. Insgesamt, das habe auch Tschernobyl gezeigt, würden die Gefahren durch kerntechnische Unfälle eher überschätzt. Das größte Problem sieht Aurand in der Informationspolitik. Nach einem Unfall müsse die Bevölkerung rasch informiert werden, um eine „verheerende Panik“ zu verhindern. Das Informationschaos von Tschernobyl dürfe sich nicht wiederholen. Informationsprobleme sieht auch Umweltsenator Starnick. Die DDR müßte den Berliner Senat innerhalb von zwei Stunden über den Unfall informieren. (So lange braucht die radioaktive Wolke, bis sie die Mauerstadt erreicht hat.) Dazu wäre schon eine gehörige Portion Glasnost notwendig. Einig war sich die Expertenrunde über die Sicherheitsdefizite der DDR–Atomkraftwerke. Helmut Hirsch (GÖK Hannover) setzte den in Greifswald, dem zweiten DDR–Standort, betriebenen Reaktortyp WWER 440 auf die „schwarze Liste“ der besonders gefährlichen Reaktortypen. Dieser Reaktor besitze - kein Containement (zweite Sicherheitsummantelung), - nur in Ansätzen ein Notkühl– System, - nur in Ansätzen ein System für den Druckabbau nach Unfällen, - einen Reaktordruckbehälter mit einer hohen Sprödbruchgefahr durch schlechte Stahl–Qualitäten, - keine korrosionsschützende Platierung im Inneren des Druckbehälters. Hirsch hält - pessimistisch gerechnet - eine Wahrscheinlichkeit für einen Super–GAU in der DDR von eins zu 300 möglich, also ein Super–GAU auf 300 Betriebsjahre. In den neunziger Jahren bei zehn in Betrieb befindlichen AKWs entspräche dies einem „Ereignis“ auf 30 Jahre. Immerhin: Der Atomkurs der DDR sei durch den Tschernobyl–Unfall ziemlich ins Stocken geraten, der weitere Ausbau werde nur zögerlich betrieben. Alle Sachverständigen beklagten die unzureichenden Informationen, die man über DDR–AKWs besitze. Ulrike Fink (GÖK Han nover) hatte deshalb für ihr Unfallfolgen–Szenario das CSSR– AKW Dukovany gewählt. Zu diesem Atomkraftwerk gibt es einen geheimen Störfallbericht, der im April an die Öffentlichkeit gelangt war. Fink hat die Auswirkungen eines angenommenen GAUs (Bruch der Hauptkühlmittelleitung, keine Kernschmelze) in Dukovany für die Bevölkerung im hundert Kilometer entfernten Wien berechnet und dieses Szenario dann auf Stendhal/Berlin übertragen. Ergebnis: Allein durch die Inhalation radioaktiver Nuklide wären 12.000 Schilddrüsen– Krebserkrankungen zu erwarten. Je nach Gegenmaßnahmen und Verzehrverboten müsse man durch die Aufnahme verseuchter Nahrung mit weiteren 1.400 bis 12.000 Krebsfällen rechnen. Einen kleinen Trost für die Berliner Bevölkerung hatte Dr. Erhardt vom Kernforschungszentrum Karlsruhe parat: Er hat herausgefunden, daß bei einem schweren Unfall in 70 Prozent aller Fälle der Wind die radioaktive Fracht an Berlin vorbeiwehen wird. Die Berliner CDU zeigt sich nach diesem Hearing beruhigt. Eine akute Gefahr bestehe nicht, und die bei einem schweren Unfall zu erwartende Dosis entspreche ungefähr der einer Magen–Röntgen–Untersuchung (Dr. Franz). Die AL ist demgegenüber „erschüttert, daß die damals und heute eingeladenen Experten auch nach Tschernobyl nichts dazugelernt haben“. Eine Kuriosität am Rande: Frank Kapek (AL) erinnerte daran, daß ein Zusammenhang zwischen der erhöhten Rate von Trisomie 21 (umgangssprachlich Mongolismus) und dem Tschernobyl–Fallout nicht ausgeschlossen werden könne. Dem hielt der sachverständige Professor Roedler (Gesellschaft für Strahlensicherheit München) entgegen, daß auch ein Zusammenhang zwischen erhöhtem Maikäfer–Aufkommen und Tschernobyl wissenschaftlich nicht auszuschließen sei.
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