: ÖTV–Spitze im Ausstiegs–Dilemma
■ Empfehlungen der fast zur Hälfte aus Atomlobbyisten bestehenden ÖTV–Kommission zum Ausstieg aus der Atomenergie sorgen für Wirbel / Anti–Ausstiegs–Programm würde Beschlußlage des DGB–Kongresses torpedieren / Hauptvorstand will Bericht prüfen
Von Martin Kempe
Berlin (taz) -Der geschäftsführende Hauptvorstand der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) sah sich gestern genötigt, zu den umstrittenen Empfehlungen der ÖTV– Kommission zum Ausstieg aus der Atomenergie früher als ursprünglich geplant Stellung zu nehmen. Die ÖTV–Spitze kündigte an, sie werde „alsbald Grundzüge für die politische Wertung des Kommissionsberichtes erarbeiten“ und dem Hauptvorstand der Gewerkschaft am 24. September dieses Jahres zur Beschlußfassung vorlegen. Beobachter deuten diese Formulierung als verhaltene Distanzierung von dem Kommissionsbe richt, der sich in wesentlichen Teilen gegen einen im Mai 1986 verabschiedeten Beschluß des DGB– Bundeskongresses wendet. Die taz berichtete in der letzten Woche über die Versuche der fast zur Hälfte aus Atomlobbyisten bestehenden ÖTV–Ausstiegskommission, die ÖTV gegen die Beschlußlage des DGB–Bundeskongresses vom Mai 1986 festzulegen. Innerhalb der ÖTV haben die Veröffentlichungen für erhebliche Unruhe gesorgt. Der 13seitige Kommissionsbericht unterscheidet sich in wesentlichen Passagen eindeutig von dem Wortlaut des DGB–Beschlusses. Zwar heißt es in dem Bericht, der „Verzicht auf die Nutzung der Kernenergie (sei) grundsätzlich realisierbar“, aber es werden Bedingungen für diesen Verzicht formuliert, die ihn gleichzeitig ausschließen. Für einen Verzicht seien „breite Mehrheiten im Deutschen Bundestag und im Bundesrat erforderlich“. Die ÖTV macht also, wenn sie dem Kommissionsbericht folgt, ihre eigene Haltung zur Atomenergie von dieser breiten Mehrheit abhängig, die die derzeitigen Regierungsparteien ebenso einschließt wie die indu striellen Betreiber. Im übrigen müsse, wie die Kommission unter Hinweis auf die Folgen der Tschernobyl–Katastrophe schreibt, „der Verzicht auf die Nutzung der Kernenergie...im internationalen Kontext angestrebt werden“. Der aber könne, so wird gleichzeitig festgestellt, „realistischerweise in überschaubarer Zeit nicht durchgesetzt werden“. Deshalb verlegt sich die Kommission auf die Formulierung von Sicherheitsforderungen, die statt des Ausstiegs international durchgesetzt werden sollen. Dies schließt die „Nachrüstung von in Betrieb befindlichen Kernkraftwerken“ ein. Die ÖTV–Kommission kann „einen sofortigen Verzicht auf die Nutzung der Kernenergie nicht empfehlen“. Fortsetzung auf Seite 2 Kommentar und Dokumentation auf Seite 4 Sie befürwortet im Gegenteil den zeitweiligen Ausbau der Atomkapazitäten: „Zur Aufrechterhaltung der Energieversorgung und zur Erfüllung der nach dem Energiewirtschaftsgesetz übertragenen Versorgungspflicht sind die im Bau befindlichen Kraftwerke unter der Berücksichtigung der Gesamtkapazität und nach entsprechender Bedarfsplanung in Betrieb zu nehmen.“ Zwar beteuert die Ausstiegskommission, daß dies in „Übereinstimmung mit dem Beschluß des DGB–Bundeskongresses“ erfolge, in dem „kein weiterer Zubau von Leichtwasserreaktoren“ gefordert wird. Tatsächlich aber würde der Ausstiegsbeschluß nach Ansicht von Experten z.B. der Industriegewerkschaft Metall durch die Zustimmung zur Inbetriebnahme der im Bau befindlichen Atomkraftwerke ausgehebelt, wenn nicht gleichzeitig dafür andere Atommeiler mit gleicher Kapazität stillgelegt werden. Ähnlich wie die ÖTV hat auch die Industriegewerkschaft Chemie eine Expertenkommission zum Atomausstieg gebildet, von der gleichfalls eine Anti–Ausstiegsopposition erwartet wird. Die IG Chemie will ihre Position im August endgültig formulieren. Die ÖTV folgt dann im September. Die dritte bisher als atomfreundlich geltende Einzelgewerkschaft, die IG Bergbau und Energie, hat in den letzten Monaten ihre Position schrittweise revi diert, weil sie eine verschärfte Konkurrenz zur heimischen Steinkohle fürchtet. Die Primärenergie Braunkohle wurde in den letzten Jahren zunehmend aus der Stromerzeugung verdrängt. Der DGB will Ende September, Anfang Oktober eine abschließende Stellungnahme darüber erarbeiten, wie der Ausstiegsbeschluß von 1986 politisch ausgefüllt werden soll.
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