: Wird das Wettrüsten beendet?
■ Trotz der Euphorie über den möglichen Abschluß eines Mittelstreckenraketen–Abkommens noch in diesem Jahr müssen in Genf noch große Hindernisse überwunden werden / Nur drei Prozent der weltweit angehäuften atomaren Sprengköpfe wären von dem Vertrag betroffen, doch nicht über ihren Abbau wird verhandelt, sondern über die Frage, ob die sie transportierenden Raketen abgezogen, zerlegt oder zerstört werden müssen / 9.000 Cruise–Missiles ersetzten Euro–Raketen
Aus Genf Andreas Zumach
Den baldigen „wohlverdienten Urlaub“, den ihnen der Berichterstatter der Zeit vor einigen Tagen voraussagte, werden die gestreßten Genfer Diplomaten vorläufig nicht antreten können. Denn in ihrem Dienstreisegepäck zum heute in Washington beginnenden Außenministertreffen Schewardnadse–Schulz fehlt den Herren Glitman und Obuchow das entscheidende Dokument: der ge meinsame Vertragsentwurf über die weltweite Beseitigung landgestützter nuklearer Mittelstreckenrakenten (INF) kürzerer (500 bis 1.000 Kilometer) und längerer (1.000 bis 5.000 km) Reichweite der USA und UdSSR. Und da unwahrscheinlich ist, daß ihre Chefs in den nächsten zweieinhalb Tagen lösen, worüber sich Expertenrunden in den vielen Marathonsitzungen der letzten Wochen nicht einigen konnten, werden die beiden Delegationsleiter bei den INF–Verhandlungen vom Potomac an den Genfer See zurückkehren und weiterarbeiten müssen. Dadurch verschiebt sich aber auch das für Ende November anvisierte Gipfeltreffen Reagan–Gorbatschow, bei dem das Abkommen unterzeichnet werden sollte. Am 11. Oktober ist es ein Jahr her, daß Gorbatschow beim Gipfel in Reykjavik das Junktim zwischen INF– und den beiden anderen Genfer Verhandlungsrunden zu Interkontinentalraketen (START) und Weltraumwaffen aufgab. Zum Entsetzen vieler im Pentagon und der NATO stimmte Reagan damals der Absicht zu, bis auf jeweils 100 Sprengköpfe in Alaska und Asien sämtliche landgestützten nuklearen Mittelstreckenraketen längerer Reichweite abzuschaffen. Hindernisse nur scheinbar beseitigt Durch eine Reihe von Angeboten der UdSSR und Konzessionen der USA wurden die wesentlichen Hindernisse für einen entsprechenden Vertrag seitdem scheinbar ausgeräumt: Zwar versuchten Gegner der doppelten Null–Lösung Ex–Nato–General Bernhard Rogers mit dem Hinweis auf die hohe zahlenmäßige Überlegenheit der UdSSR bei den zum Teil als „Gegenmaßnahmen“ zu PershingII und Cruise Missiles stationierten Raketen kürzerer Reichweite vom Typ SS 12, 22 und 23 ein Abkommen zu verhindern; Gorbatschow konterte jedoch im Frühjahr mit dem Angebot, diese Waffensysteme in eine dann „Doppelte Null–Lösung“, einzubeziehen. Die populäre Logik einer „Null–Lösung“, von Reagan im November 1981 unter anderen Rahmenbedingungen und mit der Hoffnung auf ein Scheitern in die Welt gesetzt, machten es USA und NATO unmöglich, diesen Vorschlag Gorbatschows abzulehnen. Auch der überraschende Alleingang Kohls, der am 15. Mai eine „dreifache Null–Lösung“ unter Einbeziehung auch der Systeme bis 500 Kilometer vorschlug, konnte daran nichts ändern. Als Moskau Ende Juli den weltweiten Verzicht auf Mittelstreckenraketen - also auch auf die landgestützten INF in Asien und Alaska - vorschlug, waren auch die Bedenken asiatischer Nach barstaaten gegen ein Abkommen ausgeräumt, auf die sich die USA immer wieder berufen hatten. Die USA verzichteten im Gegenzug auf die Umrüstung von 72 PershingII durch Abbau einer Raketenstufe in PershingIb mit verminderter Reichweite und die Umwandlung der bislang 200 stationierten (von 464 geplanten) Cruise Missiles in seegestützte Marschflugkörper. Wobei die PershingII–Umrüstung immer nur eine rein verhandlungsstrategische Absicht war, wie Washingtoner Regierungsvertreter offen zugeben, obwohl sich die Stahlhelmfraktion in der Bundesregierung davon einen Zugriff auf modernste Atomraketen erhoffte. Angesichts des laufenden Rüstungsprogramms, das rund 9.000 see– (Nordatlantik, Pazifik) und luftgestützte Cruise Missiles vorsieht, spielt der Verzicht auf die Cruise–Umwandlung außerdem militärisch kaum eine Rolle. Erwartungen auf einen baldigen Vertragsabschluß erzeugten schließlich die weitgehenden Verifikationsvorschläge der UdSSR in den letzten Monaten - angesichts der jahrzehntelangen Weigerung, sich auf eigenem Territorium in die Karten gucken zu lassen, eine fast revolutionäre Wandlung. US–Vertreter werten dies als Propaganda Moskaus für die Öffentlichkeit, die am Genfer Verhandlungstisch nicht durch entsprechende Vorschläge eingelöst würden. Daß sie selber angesichts des unerwarteten Eingehens der UdSSR auf Verifikationsforderungen kürzlich einen Rückzieher gemacht haben, um Anlagen in den USA sowie den PershingII– und Cruise Missiles–Stationierungsländern vor den Augen sowjetischer Inspektoren zu verstecken, weisen US–amerikanische Gesprächspartner weit von sich. Nach dem Verzicht auch auf PershingII und SS–20 in Alaska und Asien seien lediglich bestimmte Verifikationsnotwendigkeiten überflüssig geworden. Da die Vertragsentwürfe beider Seiten im Detail natürlich nicht öffentlich sind, sind diese Behauptungen wie auch die Vorwürfe an die Adresse Moskaus derzeit nicht zu klären. Vier ungelöste Probleme Tatsache ist jedoch, daß die Verifikationsfrage zu den vier noch ungelösten Problemen gehört, die eine Vertragsvorlage beim heuti gen Washingtoner Treffen verhindern. Im Detail geht es bei der Frage der Überprüfung um den Austausch von Inventarlisten, in denen sämtliche Mittelstreckenraketen, dazugehörige Sprengköpfe, Abschußvorrichtungen sowie Produktions– und Testanlagen aufgeführt sind. Mit angekündigten und unangekündigten Vor–Ort–Überprüfungen dieser Anlagen sowohl vor wie während der gesamten Phase des Raketenabbaus soll die Einhaltung des Abkommens gewährleistet werden. Unklar ist, ob auch unangekündigte Verdachtsüberprüfungen von Einrichtungen, Anlagen etc., die nicht in den Inventarlisten auftauchen, durchgeführt werden können. Dissens herrscht zweitens nach wie vor in der Frage, wer, wann und in welchem Rhythmus wieviele Raketen abbaut. Da weit mehr Raketen auf sowjetischer Seite unter das Abkommen fallen, verlangen die USA von der UdSSR, mit dem Abbau zu beginnen und ihn schneller durchzuführen, damit vor Ablauf der auf insgesamt fünf Jahre anberaumten Phase ein ungefährer zahlenmäßiger Gleichstand erreicht werden kann. Dies lehnt Moskau ab. Das Problem würde durch den jüngsten amerikanischen Vorschlag noch verschärft, zumal, wenn die Pershing1A entsprechend Kohls „Bedingungen“ nicht von Beginn an in den Abbau einbezogen, sondern lediglich nach erfolgtem Abbau aller anderen Systeme nicht mehr modernisiert würde. Denn der am 25. August in Genf erfolgte Vorschlag sieht für das erste Jahr nach Vertragsratifizierung nur den vollständigen Abbau der Systeme kürzerer Reichweite (also nur der SS–12 und SS–22) vor, während für die übrigen Systeme (PershingII, Cruise Missiles, SS–20, SS–4) drei Jahre anberaumt werden. Drittens ist nicht entschieden, ob die Raketen lediglich abgezogen, vielleicht abgebaut oder gar zerstört werden sollen. Klar ist lediglich: über die Vernichtung der rund 1.700 Sprengköpfe auf den unter das Abkommen fallenden Raketen wird in Genf nicht verhandelt. Auch des ehemaligen sowjetischen Chefunterhändlers Viktor Karpovs Verlangen nach der Verschrottung von 400 in den USA lagernden Pershing1A Sprengköpfen ist - bislang jedenfalls - noch nicht in Genf auf dem Tisch. Es bleibt beiden Seiten überlassen, was mit den Sprengköpfen passiert: sie könnten beispielsweise auch in ihren jeweiligen Bündnisbereichen - und damit auch in der Bundesrepublik Deutschland - lagern. Auf diesbezügliche Fragen der SPD–Abgeordneten Fuchs und Gansel in der Fragestunde des Deutschen Bundestages vom 25. Juli 1987 verweigerte der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Schäfer, mehrfach die Antwort. Die Vertragsentwürfe von USA und UdSSR beziehen sich lediglich auf die Raketen und Abschußvorrichtungen. Aber auch hier ist noch Vieles offen. Auf Überraschung stieß die Frage der taz an Vertreter der Verhandlungsdelegationen, was eigentlich mit den Raketenbasen passiert, wenn die Raketen eines Tages verschwunden sind. Darüber ist in Genf nicht diskutiert worden. Für die Friedensbewegung sollte es jedoch von größtem Interesse sein, ob eines Tages auf dem Mutlangen–Airfield oder der Heilbronner Waldheide wieder Fußball gespielt werden kann, oder ob dort z.B. die neuen Lance–Raketen stationiert werden oder ein Lager für Atomsprengköpfe errichtet wird. Die immensen finanziellen Investitionen, mit denen Mutlangen derzeit ausgebaut wird, deuten eher auf die letztere Variante. Die gleichen Fragen stellen sich natürlich auch hinsichtlich der Stationierungsorte in der DDR oder der CSSR. Stolperstein Pershing 1A Last but not least die Pershing1A. Auch nach Kohls überraschender Erklärung vom 26. August ist das Problem in Genf nicht vom Tisch. Die UdSSR ist mißtrauisch gegenüber Kohls „Bedingungen“ und besteht nach wie vor auf einer ausdrücklichen Einbeziehung dieser Waffen in einen INF–Vertrag. Die USA lehnen dies ab und betonen immer wieder, daß sie mit Kohls Entscheidung nicht das Geringste zu tun hätten. Es wird auch dem in der Bun desrepublik entstandenen Eindruck (taz u. stern vom 3.9.87) widersprochen, die USA hätten Kohl durch ihren am 25. August in Genf vorgeschlagenen Verzicht auf jegliche Modernisierung von Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite vor vollendete Tatsachen gestellt. Dieser Vorschlag an die UdSSR berühre bilaterale Kooperationsabkommen zwischen den USA und Bündnispartnern überhaupt nicht, heißt es. Warum dann aber Kohls bedingter Pershing–Verzicht, wo noch wenige Tage vor dem 26. August US–amerikanische wie bundesdeutsche Regierungsvertreter die Überzeugung äußerten, die UdSSR werde ein INF–Abkommen auch bei einer harten Haltung Bonns und Washingtons in der Pershing1A– Frage nicht scheitern lassen? Was tatsächlich Ende August zwischen Washington und Bonn gelaufen ist, bleibt vorerst im Dunkeln. Bei so vielen offensichtlichen Widersprüchen und unbeantworteten Fragen gedeihen jedoch Spekulationen. Eine hatten sowjetische Vertreter in der Woche vor dem neuen US–Vorschlag in Genf und Kohls Erklärung in die Welt gesetzt - u.a. von dem sowjetischen US–Experten Someiko, einem Mitarbeiter des Direktors des sowjetischen Forschungsinstituts über die USA und Kanada, Georgii Arbatow. Danach sei die Moskauer Führung „nicht hundertprozentig davon überzeugt, daß es nicht zwischen den USA und der Bundesrepublik eine Art Geheimabkommen darüber gibt, daß die Pershing1A–Sprengköpfe in deutscher Verfügungsgewalt oder in einer weiteren Verfügungsgewalt mit Vetorecht der USA sind. Damit könnte man die Hartnäckigkeit erklären, mit der die USA sich weigern, diese Sprengköpfe zu vernichten.“ Bis heute gab es keine Reaktion weder der US– noch der Bundesregierung auf diese Äußerung. Auf Nachfrage der taz reagierte ein Offizieller aus der amerikanischen INF–Delegation - nach Rücksprache mit seinem Chef Glitman: „Alles Quatsch und bösartige sowjetische Propaganda. Ein geheimes Abkommen kann es gar nicht geben - das stünde sofort in der New York Times. Moskau versucht den Eindruck zu erwecken, als ob wir und die Bundesrepublik Deutschland seit Jahren den Atomwaffensperrvertrg verletzten.“ Someiko hatte dazu erklälrt: „Die USA könnten das nicht zugeben ... das wäre eine politische Krise.“ Wäre all dies wahr, hätten die USA ein Interesse haben müssen, das Thema nach Aufkommen der ersten Spekulationen sofort vom Tisch zu bekommen. Für die Bundesregierung gilt dasselbe. Allerdings hat der Kreml bis heute keine Beweise vorgelegt. Weil dies ein INF–Abkommen mit den USA gefährden würde? Angesichts der noch offenen Probleme ist es unwahrscheinlich, daß sich die beiden Supermächte noch in diesem Jahr zu einem Abkommen durchringen können. US–Vertreter vermeiden jegliche Festlegung auf Zeitpunkte. Reagans Äußerung über ein mögliches Gipfeltreffen Ende November sollen dazu dienen, Moskau die Schuld für weitere Verzögerungen zuzuschieben. Tatsächlich würde der US–Administration die Paraphierung eines Abkommens und ein Gipfeltreffen irgendwann im nächsten Jahr vor den Präsidentschaftswahlen im November vollkommen genügen. Denn die Ratifizierung im Kongreß stößt auf Schwierigkeiten sowohl bei rechten Republikanern wie - aus Wahlkampfgründen - bei den Demokraten. Die Auseinandersetzung mit den widerspenstigen Senatoren bliebe dann Reagans Nachfolger/in überlassen. Erinnerungen an den bis heute nicht ratifizierten SALT–II–Vertrag aus dem Jahre 1972 werden wach. 9.000 see– und luftgestützte Raketen Über die militärische Bedeutung eines INF–Abkommens sollten keine Illusionen bestehen. Zwar verschwände eine ganze Kategorie moderner, landgestützter Nuklearwaffen. Doch erstens sind das gerade drei Prozent aller Atomwaffen; zweitens sind sie von immer geringerer strategischer Bedeutung, da ihre Funktion auf Grund der Weiterentwicklung der Waffentechnologie heute mit derselben Präzision auch von see– und luftgestützten Waffen erfüllt werden können. Daher paßt der Abzug der Euromissiles in den Strategienwandel, in dessen Rahmen weltweit Nuklearwaffen auf Schiffe und Flugzeuge verlegt und zu Lande die konventionellen Waffen modernisiert werden. Ob ein INF–Abkommen eine politische Bedeutung und eine Dynamik in Richtung sehr viel weitergehender Abrüstungsverhandlungen bekommt, hängt nicht unwesentlich davon ab, ob die Friedensbewegung genau diese Zusammenhänge klar benennt und zum Gegenstand der Auseinandersetzungen macht. Andreas Zumach war als Vertreter von Aktion Sühnezeichen mehrere Jahre im Koordinationsausschuß der Friedensbewegung tätig und arbeitet jetzt als freier Journalist in Genf
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