: Aufruf zu Bürgerprotest in Rumänien
■ Handzettel fordern zur Isolierung des Ceausescu–Regimes auf / Tägliches Lichtabschalten als Zeichen des Protests / Moskau soll sich für Glasnost im Reich Ceausescus einsetzen / Medien erwähnen erstmals Brasov / Ceausescu revidiert Schuldenpolitik
Aus Belgrad Roland Hofwiler
In den beiden rumänischen großen Städten Oradea und Temesvar tauchten gestern erstmals primitiv hergestellte Handzettel auf, in denen zu zivilem Ungehorsam gegen den Ceausescu–Clan aufgerufen wird. Auf die Ereignisse in Brasov (Kronstadt) eingehend, heißt es in der Erklärung, zum einen müsse das Bukarester Regime in Ost und West vollkommen isoliert wer den, zum anderen sollten auch die Bürger selbst, egal ob sie nun Rumänen oder Angehörige der deutschen und ungarischen Minderheit seien, gemeinsam ihren Unmut kundtun. Die Initiatoren der Flugschrift, die als „Infodienst der Siebenbürger Ungarn“ unterzeichneten, schlagen vor, täglich um Punkt zehn Uhr abends als Zeichen des Protests in den Wohnungen für fünf Minuten massenweise das Licht abzuschalten. Ein Mitar beiter der Initiative übergab in der ungarischen Landeshauptstadt eine Kopie des Aufrufs sowjetischen Botschaftsbediensteten. Man wolle Moskau dazu bewegen, sich für Glasnost im Reiche Ceausescus einzusetzen, hieß es dazu gegenüber der taz. Zur selben Zeit sickern aus Brasov Meldungen durch, nach denen zusätzlich zu den bereits 400 verhafteten Arbeitern sich in Bälde weitere Beschäftigte des Kombinats Steagul Rosu wegen „undiszipliniertem Arbeitsverhalten“ vor Gericht zu verantworten haben. Dieser Anklageerhebung vorausgegangen war Anfang der Woche eine Umbesetzung der gesamten Führungsmannschaft der Traktorenfabrik. Die bisherigen Direktoren mußten ihren Hut nehmen, meldete die rumänische Presse, was zugleich der erste parteiamtliche Hinweis darauf war, daß bei Steagul Rosu überhaupt eine Revolte stattgefunden hatte. Als bisher einzige Lehre aus Brasov scheint Ceausescu den Schluß gezogen zu haben, seine Schuldenpolitik zu revidieren, denn der Versuch, die westlichen Auslandsschulden so schnell wie möglich abzubezahlen, um eine von Moskau unabhängige Innen– und Außenpolitik verfolgen zu können, hat offensichtlich katastrophale Folgen auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse. Eine Schuldenlast von 750 Millionen Dollar, die demnächst fällig werde, wurde storniert. So zitiert die Parteipresse ihren Obergenossen und brachte in den letzten Tagen erneut auf Seite Eins die Schlagzeile: „Den Weisungen des Genossen Ceausescu entsprechend denken, planen und handeln.“
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