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Die Annexion Europas an Böhmen Anläßlich des 50. Jahrestages des Münchner Abkommens

Libuse Monikova

Die Annexion Europas an Böhmen

Anläßlich des 50. Jahrestages des Münchner Abkommens

Bei meinem täglichen Blick auf die Karte verschiebe ich die Grenzen von Böhmen des öfteren, mal nach der historischen Vorlage von Großmähren, mal nach Shakespeare, der wußte: Böhmen liegt am Meer. Es wäre allemal sinnvoll, die Vorschläge der Dichter zu bedenken, statt die Teilung der Welt Politikern zu überlassen, die nicht lesen.

Als 1938 der britische Premierminister Chamberlain im Zuge seiner appeasement-Politik ein Drittel der Tschechoslowakei an Hitler „abgetreten“ hatte, erklärte er im britischen Rundfunk: „Wie schrecklich, phantastisch, unglaublich ist es anzunehmen, daß wir hier Schützengräben graben und Gasmasken anprobieren sollen wegen des Streits in einem weit entfernten Land unter einem Volk, von dem wir nichts wissen.“ (Rede vom 27.9.1938) England werde ich nicht in mein Böhmen aufnehmen.

Die Geschichte Europas ist eine Abfolge von Ungerechtigkeiten, Aggressionen, gegenseitiger Schuldzuweisung für Überfälle, Ausbeutung, Verrat, Unterdrückung.

Im Zuge des historischen Überfalls auf Polen besetzte die Sowjetunion ihrerseits polnische Ostgebiete, einen Teil Rumäniens, Finnlands und annektierte Litauen, Lettland und Estland, fünf Jahre vor Jalta.

Wenn ich über Europa schreibe, beschreibe ich meine Ressentiments und ahne die der anderen.

England also nicht, und Frankreich hat sich auch nicht bewährt. Nicht in diesem Jahrhundert, wo sie '38 in München zum letzten Mal eine autonome Entscheidung über sich und über Europa hatten, noch ohne Anweisungen und Interessen der Hegemonialmächte. Die Weichen für die Konferenz auf der Krim im Februar 1945 waren durch die Preisgabe eines mitteleuropäischen Landes, „das weit weg liegt und von dem wir nichts wissen“, '38 gestellt. Vor Jalta war München.

Shakespeare verlegte Böhmen ans Meer, das ist der ältere Entwurf, und ich träume über der Karte und verschiebe die Grenzen. Soll Schweden dazugehören? Dann gleich ganz Skandinavien. Und weiter? Polen, sicher. Und Jugoslawien im Süden. Österreich nehmen wir auch, schon wegen der Landschaft (Der provinzielle Antisemitismus wird noch ein Problem sein). Und Italien, natürlich, in seiner unvereinten Gestalt, als es in der Vielfalt seiner Stadtrepubliken die höchste Kultur hervorgebracht hat. Dann würde Böhmen gleich an zwei Meere grenzen. - Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder...

Es liegt im Wesen der Politik zu versagen, Verrat an Verbündeten zu üben und von der Geschichte verurteilt zu werden (mit Chamberlains Desaster gewann Churchill die nächste Wahl). Wo waren aber die europäischen Intellektuellen damals? Die französischen, englischen, italienischen Schriftsteller, die Stimmen der deutschen Kollegen, die ihr erstes Asyl vor Hitler in der Tschechoslowakei gefunden hatten?

Es ist mir bewußt, daß jetzt jeder Teilnehmer der Tagung aufspringen undseine Beispiele anbringen könnte, ich weiß, daß ich die Spielregeln verletze.

Nationalismus ist auch unter den Tschechen nicht sehr populär. Ich kann mir außerdem vorstellen, daß nicht jeder in meinem Böhmen leben möchte.

Europa ist ein Konglomerat aus Empfindungen, Verletzungen und überlieferten Klischees über die anderen. Die Sprache konserviert die Vorurteile:

„Böhmische Dörfer“ gibt es nur in Deutschland; ebenfalls „polnische Wirtschaft“. (Dafür behalten die Deutschen auch ihre „deutsche Markenbutter“ und zur Strafe noch holländisches Gemüse.)

Die Tschechen haben „spanische Dörfer“ und „türkische Wirtschaft“, es ist auch nicht besser, allenfalls dadurch entschuldbar, daß die inkriminierten Länder ferner liegen und keine Nachbarn sind. Die Engländer sind fein heraus „it's all greek to me“, versichern sie scheinheilig, die Antika haben wir alle hinter uns (wie es die Griechen empfinden, weiß ich nicht); sie können nach München mit Chamberlain ruhig zugeben, „it's all czech to me“.

Andererseits gründet mein europäischer Traum auf dem produktiven Irrtum Shakespeares über die Lage Böhmens.

Es bleibt also auch England dieser wirren, katastrophalen Vielfalt von Europa, meinem Böhmen, verhaftet.

Dichterische Entwürfe erweisen sich auf die Dauer als die zäheren „Haupt- und Staatsaktionen“.

Eine Schädigung (Rotbuch-Verlag) Pavane für eine verstorbene Infantin (Rotbuch-Verlag) Die Fassade (Hanser-Verlag)

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