: ÖTV verheimlicht Konflikt
■ Tarifkompromiß der ÖTV vom März infragegestellt / Konflikt um Wegezeiten innerhalb der Arbeitsstätte noch ungelöst / In Zukunft länger statt kürzer arbeiten?
ÖTV verheimlicht Konflikt
Tarifkompromiß der ÖTV vom März infragegestellt / Konflikt
um Wegezeiten innerhalb der Arbeitsstätte noch ungelöst / In Zukunft länger statt kürzer arbeiten?
Von Martin Kempe
Berlin (taz) - Die im März vereinbarte Arbeitszeitverkürzung im Öffentlichen Dienst ist für viele der rund vier Millionen Staatsbeschäftigten noch nicht gesichert. Wenn nicht doch noch eine Einigung zwischen der Gewerkschaft ÖTV und den Öffentlichen Arbeitgebern über das Fortbestehen des Paragraphen 15, Absatz 7 den Bundesangestellten -Tarifvertrages (BAT) zustandekommt, droht die Tarifrunde vom Frühjahr dieses Jahres in einem gewerkschaftspolitischen Fiasko zu enden. Denn dann müssen viele Angestellte vor allem der Kommunen möglicherweise länger arbeiten als zuvor. Von einer Entlastung des Arbeitsmarktes, wie sie von der Gewerkschaft mit der Arbeitszeitverkürzung angestrebt wird, kann dann keine Rede mehr sein.
Nach der Einigung zwischen Öffentlichen Arbeitgebern und ÖTV in der Nacht vom 22. auf den 23. März dieses Jahres hatte die ÖTV-Vorsitzende noch stolz verkündet, die vereinbarte Arbeitszeitverkürzung (eine Stunde ab 1.4.89, eine weitere halbe Stunde ab 1.4.90) werde rund 100 000 neue Arbeitsplätze schaffen.
Sie wußte damals, daß sie hinter diese Aussage ein dickes Fragezeichen hätte setzen müssen. Denn ein scheinbar unwichtiges Detail war in den Einigungsverhandlungen jener langen Tarifnacht ungelöst geblieben, das bei den Beratungen der Großen Tarifkommission der ÖTV immer wieder angesprochen worden war: was passiert mit dem Paragraphen 15 (7) des BAT? In diesem Paragraphen wird festgelegt, daß die Arbeitszeit für die Angestellten des Öffentlichen Dienstes mit Erreichen bzw. Verlassen der Arbeitsstätte beginnt und endet.
Seit langem haben vor allem die kommunalen Arbeitgeber gefordert, das Wort „Arbeitsstätte“ durch das Wort „Arbeitsplatz“ zu ersetzen. Praktische Bedeutung erhält dieser Unterschied in zahlreichen öffentlichen Einrichtungen, Krankenhäusern, Bürokomplexen, Betriebshöfen, in denen vom Eingang bis zum Arbeitsplatz größere Wege zurückzulegen sind. Wird das Wort „Arbeitsstätte“ durch „Arbeitsplatz“ ersetzt, gehen die Zeiten für Wege innerhalb der Arbeitsstätte zulasten der Beschäftigten.
Die praktische Bedeutung dieses kleinen Unterschieds erläuterte gegenüber der taz der ÖTV-Geschäftsführer in der schleswig-holsteinischen Kreisstadt Husum, Egon Nickelsen. Unter Berufung auf eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 12.2.1986 hatte er im Namen von 40 Krankenhaus-Beschäftigten rückwirkend für das Jahr 1987 den Anspruch angemeldet, .... Fortsetzung Seite 2
Kommentar Seite 4
ÖTV...
... daß die Arbeitszeit mit Erreichen der Arbeitsstätte beginne. Das Landesarbeitsgericht in Kiel entschied am 25. Mai dieses Jahres in einem Vergleich, daß die Arbeitszeit mit Betreten der Umkleideräume beginnt. Hin- und Rückweg von dort zum Arbeitsplatz (z.B. der Station) werden mit täglich 20 Minuten veranschlagt. Bei Krankenschwestern, die häufig sechs Tage pro Woche arbeiten, macht dies zwei Stunden pro Woche - das Doppelte der im März für 1989 vereinbarten Wochenarbeitszeitverkürzung. In Göttingen summierte das Arbeitsgericht in einer Entscheidung die Wegezeit im Universitätsklinikum sogar auf 2,5 Stunden.
Vor der großen Tarifkommission der ÖTV hatte die Vorsitzende Monika Wulf-Mathies in der langen Nacht zum 23. März dieses Jahres beteuert, das Verlangen der Arbeitgeber nach Veränderung des Paragraphen 15 (7) „ist vom Tisch“. Damit sei der Weg frei, dem Verhandlungsergebnis über die stufenweise Arbeitszeitverkürzung bis 1991 zuzustimmen. Die Mitglieder der Großen Tarifkommission folgten diesem Vorschlag in der Annahme, daß auch im neuen Tarifvertrag der 15 (7) wie bisher im gewerkschaftlichen Sinne enthalten sein werde. Tatsächlich aber bedeutete das „vom Tisch“ der Vorsitzenden, daß die Tarifparteien in den Verhandlungen übereingekommen waren, die Kontroverse über den umstrittenen Paragraphen einfach und nicht zu behandeln.
Organisationsintern wurde das Problem seitdem nicht weiter erörtert. Aber in der letzten Woche hat der Konflikt die Gewerkschaft wieder eingeholt. Bei den sogenannten Redaktionsverhandlungen zwischen den Tarifexperten der ÖTV und des Öffentlichen Dienstes, in denen die Ergebnisse des Tarifkompromisses im März in Paragraphenform gegossen werden sollten, präsentierten die Arbeitgeber am Donnerstag in Bonn einen Vertragsentwurf, in dem alles gemäß dem Kompromiß vom März enthalten ist. Nur der Paragraph 15(7) über Beginn und Ende der Arbeitszeiten ist ausdrücklich ausgespart. Die Arbeitgeber beriefen sich dabei auf eine Absprache vom März zwischen ihrer Verhandlungsführung, der ÖTV-Vorsitzenden Wulf-Mathies und dem für Tarifpolitik zuständigen Vorstandsmitglied Willi Hanss.
Die ÖTV-Verhandlungsdelegation hat am Freitag letzter Woche die Redaktionsverhandlungen zunächst einmal platzen lassen. ÖTV-Sprecher Hillgärtner erklärte auf Anfrage der taz, die ÖTV werde sich dem Vorwurf der Arbeitgeber widersetzen, das Tarifergebnis im Nachhinein zu ihren Gunsten zu verändern. Neue Verhandlungen werden wahrscheinlich erst im Herbst geführt - jedenfalls nach dem ÖTV-Gewerkschaftstag, der Mitte Juni in Hamburg stattfindet. Wenn die Arbeitgeber sich dabei durchsetzen, nützt die schönste Rechtssprechung nichts, und die Krankenschwestern von Husum (und nicht nur sie) dürfen ab April 99 nicht eine Stunde weniger, sondern eine Stunde mehr arbeiten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen