: EINLADUNG NACH LÜNEBURG
■ Das Salz in der niedersächsischen Suppe
Die Regenwolken hocken seit jeher mit fetten Schenkeln auf der norddeutschen Tiefebene; weithin dunkle Erde und fettes Gras, vereinzelt stapfen schwarzweiße Kühe über die Weiden. Äcker liegen brach, dahinter Wälder. Eine ruhige Gegend. Seltsame Städtchen drängen sich hier, zwischen Hamburg und Hannover, bevölkert von düster schweigenden Einwohnern, die erst vor wenigen Generationen aus den Wäldern gekrochen sind. Zwischen Moor und Marsch und dürrer Heide haben sie sich angesiedelt und ihren Wohnstätten dunkle Namen gegeben: Radbruch, Hitzacker, Walsrode, Faßburg. Und schließlich das uralte Lüneburg, „eine an alten Bauwerken reiche Stadt am Nordrand der Lüneburger Heide“, wie der „Brockhaus“ raunt. Wer aber nun ein verhutzeltes Städtchen erwartet, das im Laufe seiner tausendjährigen Geschichte vergreist und verwarzt ist, wer nur zerbröckelnde Backsteingotik und baufälliges Fachwerk im Sinn hat, wer sich rasch mal unter eine mittelalterliche Einwohnerschar mischen möchte, der muß sich auf einiges mehr gefaßt machen. Treten wir also ein Stück näher und fassen die Sache genauer ins Auge.
Zunächst fällt auf, wie ostentativ die hiesige Bevölkerung an Salzstangen und Salzbrezeln knabbert. Auch wenn die Lüneburger Saline 1980 endgültig ihre Pforten schloß, lassen sich die Lüneburger nicht die Suppe versalzen, sondern halten den Bibelspruch Paulus Kol. 4, 6 hoch: „Eure Rede sei allezeit lieblich und mit Salz gewürzt.“ Was kein Wunder ist, denn durch die Jahrhunderte war das Salz der Garant für Lüneburgs Reichtum und Aufstieg zur Hansestadt. Wenn irgendwo in Europa etwas einzupökeln war, schickten die Lüneburger ihre Salzkähne die Illmenau herunter und erhielten im Gegenzug mancherlei Spezerei und bare Münze. Die schwerreichen Kaufmannsfamilien ließen sich denn auch nicht lumpen und bauten die berühmten Handelshäuser, die heute noch in der Innenstadt herumstehen und japanische Touristenhorden anlocken. Und sogar Thomas Pynchon schwärmt von der „Wandfärberstraße in Lüneburg, mit den Kranbalken hoch in den Treppengiebeln und schmiedeeisernen Wetterhähnen oben auf den Spitzen“ (Die Enden der Parabel). Mit Wehmut wurde Lüneburgs große Zeit in der Fernsehserie „Die Melchiors“ noch einmal aufgewärmt; doch mittlerweile hat man sich schlauerweise zum Sole- und Moorheilbad erklärt und lockt mit dem alten Komsomolzenspruch: „Komm, sol mit mir.“ Und auch die Lüneburger Geschäftswelt erinnert mit ihren gesalzenen Preisen an die vergangene Größe der Stadt.
Heutzutage sonnt man sich hier vor allem in dem Gefühl, eine ganz gewöhnliche norddeutsche Kreisstadt mit etwa 65.000 Einwohnern zu sein, „allem Neuen aufgeschlossen und doch traditionsbewußt“, wie es den Stadtoberen gelegentlich entfährt. Die einheimische Industrie versorgt die umliegenden Nationen mit schicker Lucia-Mode und dem berühmten Lünebest-Yoghurt, während das Moravia-Bier nur bei den Eingeborenen rechten Anklang findet. Der ansässige Verwaltungsapparat wickelt hier die Geschäfte für den Landkreis ab, die hiesige Hochschule bildet eifrig neue Lehrer aus und der Lüneburger Sportklub kickt im gesicherten Mittelfeld der Oberliga. Die besten Tischfußballspieler unserer Nation sind übrigens Lüneburger! Zudem ist Lüneburg eine stolze Garnisonsstadt, deren Soldaten im alljährlichen Herbstmanöver mit ihren Panzern in der niedersächsischen Scholle buddeln dürfen. Am Bahnhof begrüßt der Stationssprecher jeden einfahrenden Zug schnarrstimmig mit „Lüneburg, Lüneburg, hier ist Lüneburg“, und die drei altehrwürdigen Kirchen der Innenstadt - Michaelius, Johannis, Nicolai - dengeln friedlich durch den Tag. Abends kommen Busse aus den benachbarten Dörfern herbei, denen massige Bauernfrauen in großgeblümten Abendkleidern entsteigen, die im Lüneburger Stadttheater die neue und wiederum äußerst gewagte Operettenproduktion miterleben möchten. Täglich hält die 'Lüneburger Landeszeitung‘ ihre Leserschaft auf dem Laufenden und hält unbeirrt das Banner des bauernschlauen Provinzlertums hoch. Doch auch ein verruchtes Viertel hat Lüneburg zu bieten, am Rande der Sülzwiesen, auf der Rübekuhle, wo sich abgehalfterte Intellektuelle in der Gaststätte Bergmann treffen; daneben warten die Landnutten in niedrigen Katen, rote Laternen im Fenster. Die Alstadt-Lichtspiele zeigen dem interessierten Publikum den neuesten „Hausfrauen-Report“. Mittwochs und sonnabends trifft man sich unweigerlich auf dem Lüneburger Marktplatz, wo stimmgewaltige Marktweiber aus Bardowick, Süschendorf, Salzhausen ihre Äpfel und Eier feilbieten, während die Touristen in der mittelalterlichen Folterkammer des Rathauses nebenan frösteln. Nicht ungern prahlt man ihnen vor, daß Lüneburg seinerzeit Johann Sebastian Bach und Heinrich Heine beherbergt hat; nicht zu vergessen Niklas Luhmann, dessen Geist am hiesigen Johaneum geschleift worden ist. Wie immer auch, den ganzen Sommer über wuselt das Volk auf der Bächerstraße und Grapengießerstraße, ein Fontanellaeis schleckend, und ergötzt sich an den Schaufenstereinlagen. Besonders ulkig finden die Lüneburger natürlich den „Badespaß mit Disco-Sound im Solewellenbad“ jeden Dienstag. Und wie anderswo auch hat man am Stadtrand, hier Kaltenmoor genannt, behagliche Wohnsilos aus der Erde gestampft, mit integriertem Einkaufcenter, übellaunigen Rentnerinnen und kindlichen Pattexschnüfflern.
Diese Puppenstubengemütlichkeit wird leider zunehmend durch die Lüneburger Jugend gestört, die in Vororten wie Oedene heranwächst und auf dem Kunkelberg ihre Unschuld verliert. Später durchstöbern diese Jugendlichen den Kalkberg, mit 57 Meter der höchste Berg Lüneburgs, „nach halbverwesten Leichen“ und randalieren zu nachschlafender Zeit in der Schlägertwiete, einer Straße in der Altstadt. Zuhauf hocken sie am Sint, der Saufecke Lüneburgs, wo sich Rocker, Freaks, langhaarige Alternative, Landpomeranzen, frühpubertäre Geistesgrößen, Bauerntrampel ein Stelldichein geben, dort kippen sie ihre Biere ein, holen Nachschub aus dem Schallander-Flip-Pesel und schwärmen von jener Zeit, da die Traumfrau Annette hinterm Tresen des Voodoo stand und sämtlichen Jungs die Köpfe verdrehte. Ja, die alten Lieder steigen in die laue Sommernacht, „O sing man tau sing man tau, von Häärn Pasthor sin Kau“, und die legendären Recken erzählen ihre Anekdoten von den Gorleben-Schlachten, vom täglichen Herumlungern vor Tschibo, von den Hausbesetzungen und vom Lüneburger Erbfolgekrieg (1369-1388). Verkäufer schwenken die neue Ausgabe des Alternativblattes 'Moin‘, während die jungen Lüneburger beim siebzehnten Bier schwören, dem großen Ruf der Stadt keine Schande zu bereiten. Aber leicht ist es nicht, dem allgegenwärtigen Muff Lüneburgs noch seinen Reiz abzugewinnen. Und so besteigen sie spätnachts ihre klappernden Kadetts und hochgereizten Mopeds, um rüberzufahren nach Winsen an der Luhe. Der allerletzte Schrei in der niedersächsischen Städtekonkurrenz! Hier kommen die Kinder noch auf dem Hausschwein zur Schule geritten und werden später zu Prominenten wie Marlene Charell, Karin Seick und Eckermann. Kein Wunder also, daß die Winsener gerne den Lüneburgern den Bibelspruch Matth. 5, 13 unter die Nase halten: „Wenn nun das Salz kraftlos wird, womit soll man's salzen?“
Olga O'Groschen
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