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Vom Nachttisch geräumt: KALKUTTA

Buchenswert war ihm sein Aufenthalt in Kalkutta und lesenswert ist das Ergebnis geworden. Günter Grass‘ neuestes Buch „Zunge zeigen“ versammelt ein langes Gedicht (S.209 -231) - man denke an Höllerer - , 80 Zeichnungen und seine Notizen vom viel kommentierten Indienaufenthalt August 1986 bis Januar 1987. Eine interessante Assemblage, die sicherlich viel verriete über die Beziehungen der verschiedenen Künste nicht nur des Günter Grass. Aber schon die Tagebuchaufzeichnungen allein geben Stoff für hundert Überlegungen.

Nie wäre ich auf die Idee gekommen, daß ein paar Kritiker den weltweit einflußreichsten Autor der bundesrepublikanischen Literatur so kränken, so verbittern könnten. Was scheren ihn die Meinungen von taz bis FAZ? Warum kann er nicht lächeln über sie? Wieso scheinen sie ihm wichtiger als Salman Rushdie, der nicht müde wird, die 'Blechtrommel‘ sein großes unerreichtes Vorbild zu nennen? Warum will er unbedingt von Reich-Ranicki geschätzt, geliebt werden? Nichts von Grass‘ Bürgerstolz, seinen republikanischen Tugenden bleibt übrig, er ist nur noch trotzig-beleidigte Leberwurst, wo es um die Kritik an seinen Büchern geht. Da er gleichzeitig den Durchblicker herauskehrt, gewinnt er, aus gebührendem Abstand beobachtet, den Charme jener hochfahrenden gerade der Pubertät entkommenen jungen Männer, die ganz sicher sind, die besten zu sein und fuchsteufelswild werden, wenn nicht jeder es gleich merkt.

Grass‘ eigene kritische Bemerkungen in seinen Notizen, etwa zu Schädlichs 'Tallhover‘, zu Canettis 'Blendung‘ sind nicht so zart wie er sich die Kritik an seinen Arbeiten zu wünschen scheint. Glücklicherweise.

Lesenswert ist das Buch aber nicht nur wegen solcher Einblicke in des Autors Gemütsleben, sondern auch dank der Beobachtungen, die Grass festhielt. Da heißt es - plastisch formuliert wie fast nur Grass es kann - von den Armen, die auf den Straßen Kalkuttas schlafen, sie zeigten „ihre Fußsohlen wie Ausweise“. Er hält Szenen fest, die ganze Berge sozialwissenschaftlicher Literatur ersetzen: „Gegenüber, auf der Esplanade Row, beginnt sich, durch Lautsprecher angekündigt, eine Streikversammlung zu formieren. Die Angestellten einer Versicherungsgesellschaft steigern ihre Lohnforderungen ins Revolutionäre, indem sie einer korrekt bekleideten Strohpuppe, die dem Firmenchef gleichen soll, immer wieder den Kopf abschlagen. Einige der streikenden Angestellten suchen Abwechslung bei den Ratten und Krähen, die sie füttern, wie man anderswo Schwäne und Eichhörnchen füttert.“

Die Eindrücklichkeit dieser Beobachtung wird leider erheblich gemindert, durch das blasse und auch falsche „steigern“. Auch das nur gespielte Abschlagen eines Kopfes ist etwas ganz anderes als eine Lohnforderung, nicht nur deren Steigerung. So wird das ironische Spiel mit dem „Revolutionären“ unter Wert verkauft, und die eigentliche Pointe der Geschichte verjuckelt: der Revolutionär köpft die Kapitalisten und füttert die Ratten.

Ganz trocken und gerade dadurch ergreifend notiert Grass: „Ein uralter Santal, dessen weißer Bart bis zum Hüfttuch fällt, zeigt uns einen selbstgenähten Regenschirm aus Flicken, in die er die Geschichte seines Stammes in Bildschrift gestickt hat.“ Vor allem diese Beobachtungen machen „Zunge zeigen“ zu einem wichtigen Buch. Ganz dick angestrichen habe ich mir sein Josephslob. Endlich noch jemand, der kapiert hat, daß der Josephsroman Thomas Manns schönster ist: „Ich bin im Josephsroman bei Seite 1000 ('zurück aus dem drolligen Ägypterland‘) angelangt. Thomas Manns Bravour-, Meister- und Kunststück, das noch in seinen Längen erstaunlich bleibt: selbst wenn der Leser meint, jetzt zeigt er nur noch: Seht, was ich alles zwischen Himmel und Erde herbeispekulieren kann - hebt der Autor wie nebenbei den Erzählfaden wieder auf, treibt die Legende, und sei's durch die Wüste, weiter und weiter. Wer da immer noch rumkrittelt, weil Können verdächtig zu sein hat, soll es ihm nachmachen.“

Günter Grass, Zunge zeigen, Luchterhand-Verlag, 256 Seiten, 80 Zeichnungen, 48 Mark.BLOCKENDE

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