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Brüsseler Eingeweide

■ Oben der monumentale Justizpalast der Euro-Schaltstelle. Zu seinen Füßen ein besonderes Viertel: die Marolles - arm, echt, aufrührerisch. Eine Geschichte von unten

Stefan Röhm BRÜSSELER EINGEWEIDE

Oben der monumentale Justizpalast der Euro-Schaltstellen. Zu seinen Füßen ein besonderes Viertel: die Marolles - arm, echt, aufrührerisch. Eine Geschichte von unten.

Mammut öffnet sich: Seine Innenwände sind poliert, sie glänzen in gelblich gedämpftem Licht. An die hundert Meter hoch stemmen die Säulen in griechisch-römischem Stil seine Kuppel. Richter schreiten in schwarzen Gewändern durch die „Halle der verlorenen Schritte“, Rechtsanwälte flüstern ihren Mandanten über schwere Holztische letzte Anweisungen zu. Dann werden diese an der Ahnenreihe der in Marmor gehauenen Richter entlang zum Saal X geführt.

Ich verlasse den Justizpalast. Von der Terrasse des Vorplatzes aus schweift der Blick über EG-Büroplätze, Atomium und dem Rathausturm der historischen Grande Place. Zu unseren Füßen liegt das Marolles-Viertel; über eine Treppe, ein paar Pflastersteingassen, vorbei an Hundehaufen und halbzerfallenen Häusern gehen wir zum Vieux Marche: der Trödelmarkt ist der Puls der Marolles und der Darm Brüssels. „J'achete et enleve tout“ - „Kaufe alles und hole alles ab“, steht auf den rings um den fußballfeldgroßen Platz abgestellten rostigen Lieferwagen, auf Haustüren und Handkarren.

Es geht auf drei Uhr zu, und die Händler packen ihren Kram jetzt beginnt die Zeit der „Nachlese“. Ein ergrauter Marokkaner mit Strickmütze und langem, himmelblauen Kapuzenmantel bückt sich nach einem zurückgelassenen, staubsaugerähnlichen Kasten und schleift ihn zum Bordstein. Er stellt seine Pampers-Kiste ab, setzt sich, holt einen Hammer aus der Manteltasche und beginnt in der Manier eines Schmieds gleichmäßig auf seinen Fund einzuschlagen. Neben ihm versuchen drei Männer, einen abgewetzten Schreibtisch auf einem Dachgepäckträger zu verspannen. Der Hammer -Rhythmus setzt aus: Er hat eine rote Leitung freigelegt, hält sie vor die zusammengekniffenen Augen und läßt sie schließlich in der Kiste mit dem lachenden Baby darauf verschwinden.

Eine blasse Langhaarige legt die Klobrille wieder auf den Boden, die sie zuvor mehrmals gedreht und gewendet hat. Aus ihrem schreiend-grünen Rock staken Streichholzbeine. Eine Stuhllehne wandert in ihren Müllsack - Brennholz im Juli?

Von weit oben äugt die Kuppel des Tempels der Justiz auf jedes Plätzchen, in jede Gasse des Viertels herunter. Doch die aus Tradition mit dem Leben in der gesellschaftlichen Gosse verbundenen Marollianer - „c'est le quartier populaire“, sagt man in Brüssel und meint damit genauso arm wie echt und aufrührerisch - konnten auch durch den Bau dieses Rechtsmonstrums nicht eingeschüchtert werden. Leopold II., Privatbesitzer des Kongos und König der Belgier, ließ ihn vor knapp hundert Jahren an der Stelle errichten, wo bis dato der Galgen stand. Nach dem Willen des Architekten, einem gewissen Polaert, sollten die Angeklagten über eine 200 Stufen lange Treppe im Innern des Gebäudes direkt vom Marolles-Viertel aus in die große Opferhalle geführt werden; Polaert wurde wahnsinnig und das Wort „architek“ bedeutet im Munde von alteingesessenen Marollianern heute noch so viel wie „Schwachkopf“.

1969 wurde eine weitere von oben gestartete Attacke abgewehrt: Mittels Protestmärschen vereitelten die Bewohner Pläne, nach denen mehrere Häuserzeilen neuen Archiven des Justizpalastes weichen sollten. Aus der „Bataille des Marolles“ entstand das „Zentrale Aktionskomitee“ des Viertels; dieses verhinderte zum Beispiel vor zehn Jahren, daß die Antiquitäten-Profis des angrenzenden Sablon-Viertels ihr Geschäft auf Marolles-Gebiet ausdehnten, um in ruhigen Gäßchen edle Stücke für erlauchte Kundschaft anzubieten. Der Bau eines kleinen Übergangswohnheimes am Eingang der Rue Samaritaine genügte schon, um die Pläne wieder diskret in die antiken Schubladen zurückwandern zu lassen. Als die alte Feuerwehrkaserne am Trödelmarkt zugunsten von Bürofläche abgerissen werden sollte, setzte man eine Renovierung für künftige Sozialwohnungen durch.

Wo hat dieser ständige Wille zu Widerstand und Solidarität seine Wurzeln? Bevor die unabhängigkeitsliebenden fliegenden Händler des täglich stattfindenden Vieux Marche dem Viertel sein charakteristisches Treiben bescherten, waren diese zwei Quadratkilometer Brüsseler Altstadt ein Spiegel der Entwicklung des europäischen Proletariats seit dem Mittelalter. Als erste lehnten sich im 14.Jahrhundert Weber und Tuchhändler gegen die Patrizier auf, später kam Verstärkung durch die Fleischer.

Bei Beginn der industriellen Revolution drängte sich über die Hälfte der Arbeiterbevölkerung des damals 80.000 Seelen zählenden Brüssels in den dreistöckigen Mietshäusern der Marolles mit durchschnittlich 16 Haushalten unter einem Dach. Als 1845 das Kommunistische Manifest in Brüssel veröffentlicht wurde, kam es in den Marolles fast zwangsweise zu blutigsten Straßenschlachten.

Um die Jahrhundertwende jedoch verlagerten sich die großen Fabriken in die Außenbezirke; mit ihnen gingen die halbwegs qualifizierten Arbeiter. Zurück blieben Alte und Kranke. Gleichzeitig wurde der „Loezemet“ (flämisch für Flohmarkt) von der heutigen Place Anneessens in die Marolles verlegt unweit des alten Standortes hatte man einen Prachtboulevard errichtet, und die flanierende Bourgeoisie beklagte sich zunehmend über „Promiskuität und Häßlichkeit“ und hatte Angst vor Flöhen. Lumpensammler, Hausierer, „cajoubereirs“ (Müllstöberer), Alteisenhändler und nicht zuletzt die Endverkäufer, die Trödler, zogen in die Marolles. Sie mieteten sämtliche Keller, Mansarden und Schuppen rund um den Markt als Stauraum an. In den Hinterhöfen wurde - und wird heute noch - aussortiert; Frauenhände wühlten in Bergen von Kleiderresten, trennten noch Tragbares in Marktware und Ware für die Kongo-Missionen. Was übrig blieb, wurde als Preßballen an Papierfabriken und Spinnereien verhökert.

Mit der Transplantation eines neuen Herzens in das Viertel änderte sich sein Lebensrhythmus: Die Kneipen hängten Schilder mit „Suppe Tag und Nacht“ an die Tür, um vier Uhr morgens warf die legendäre Treiske auf der Place ihr Öfchen an - heißes Wasser „opschinken“ für die Hausfrauen, die mit ihren Kaffeekannen Schlange standen.

Dann kamen die Deutschen. Um das rebellische „Lumpenproletariat“ in Schach zu halten, stellten sie im Ersten Weltkrieg auf der Terrasse des Justizpalastes eine Kanone auf (heute stehen dort schwenkbare Fernrohre), die direkt auf die damalige Rue des Marolles zielte. Die Rebellion kam, wenngleich in eigenem Stil: In Uniformen aus alten Säcken, behelmt mit randlosen Melonen nebst aufgesteckten Mohrrüben und verstärkt durch eine Artilleriedivision, deren Hundekarren Ofenrohre hinter sich herschleiften, zogen die Marollianer scheppernd und Befehle gröhlend durch die Straßen.

Kein Parademarsch, sondern ein feierlicher Leichenzug wurde am Tag nach des Führers Selbstmord veranstaltet. Spaßvogel Flup den Duuve hatte sich Popelbremse und Adolftolle zugelegt und wurde nun unter lautem Gejohle in einer offenen Kiste zu Grabe getragen. „Und wie Hitler dann plötzlich aus dem Sarg sprang, weil er unbedingt pinkeln mußte...“ Die Alten kennen den Eulenspiegelstreich noch.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wanderten viele Spanier und in den siebziger Jahren vor allem Marokkaner zu. Daher die mediterranen Kinderhorden, die sich heute ballspielend durch die Straßen wälzen. „Wenn sie in der Schule gefragt werden: 'Wie sieht ein Huhn aus?‘, malen sie dir ein cellophanverpacktes Grillhähnchen aufs Blatt!“ Eric vom pädagogischen und einzigen Schrebergarten im Viertel versucht den Kindern wenigstens beizubringen, wo der Salat herkommt. Er grüßt und verschwindet in einer Tür, über der ein Holzschild baumelt: „Restaurant du Quartier Mittagessen 2,50 für alle“.

Integration ist hier kein wirkliches Problem: Während im restlichen Belgien der Sprachenstreit die Regierung lahmlegt, beginnen die Marollianer in ihrem Dialekt den Satz auf Französisch, setzen ihn in Flämisch fort und runden ihn mit einem Schuß Spanisch ab.

Über die Rue des Tanneurs, wo jedes zweite Ladenlokal als Lager dient und bis zur Decke mit zerschlissenen Sofas, Lampenschirmen und Klamotten zugepfropft ist, gehen wir zurück zum Markt. In den „Anciennes trois portes“ an der Ecke ist mal wieder Hochstimmung: Irgendjemand hat behauptet, man bekomme eine Armtätowierung weg, wenn man über Nacht ein rohes Beefsteak drauflegt. „In dieser Kneipe sind seit acht Jahren die gleichen Leute.“

Pol, der Flohmarktfan, sitzt vor seiner dampfenden Zwiebelsuppe und hebt den Zeigefinger: „Das einzig Genießbare hier - aber de-li-ziös.“ - „Attention!“, ruft eine Stimme, alles schaut zur Tür, das Gelächter verstummt: Langsam fährt eine Blondine in einem schwarzen BMW vorbei, Sonnenbrille, Arm draußen. Der eisgraue Vorposten an der Tür dreht sich um, und das breite, zahnlose Grinsen seines weit geöffneten Mundes erfüllt den Raum, pflanzt sich lautlos von Gesicht zu Gesicht fort, verschwindet hier hinter einer Gauloise-Wolke und wird dort kurz in Bierschaum getaucht bis das allgemeine Palaver wieder anhebt, das Beefsteak, wieso nicht gleich braten...

Ich gehe nach draußen. Mittel- und Südeuropa feilschen um ein verrostetes Sägeblatt. Der aufgeschwemmte, abgesetzte König versinkt tief in seinem Plüschsessel, qualmt eine fette Zigarre. Die Falten des Polsters: Sein Gesicht scheint sie fortzuführen. Mein Kampf, Mao auf Spanisch. Wat is Existentialisme? Le Palais de Justice...?

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