: Daugavpils - Lehrstück für die UdSSR?
Die ökologische Bewegung in Lettland wird zum Testfall für die demokratische Umgestaltung der Sowjetunion / Zehntausende verhinderten Wasserkraftwerk bei Daugavpils / Als Ersatz geplant: Ein AKW bei Liepaja / Die Bewegung hat ein neues Ziel / Schon lange hängt Lettland an einem atomaren Energietropf ■ Aus Münster Ojars J. Rozitis
„Volksfronten“ und ökologische Gruppierungen sind in den baltischen Staaten aktiver als irgendwo sonst in der Sowjetunion. Ihr Selbstbewußtsein ziehen Letten, Esten und Litauer nicht zuletzt aus einer hochentwickelten, energieintensiven Industrie. Zehntausende von lettischen Bürgern verhinderten bei Daugavpils ein ökologisch gefährliches und ökonomisch unsinniges Wasserkraftwerk.
Seit Anfang November 1987 ist es amtlich: die Regierung der UdSSR hat beschlossen, den Bau des Wasserkraftwerkes bei Daugavpils (dt. Dünaburg) in der baltischen Sowjetrepublik Lettland einzustellen. Angesichts der ca. 20 Mio. Rubel, die das Projekt bisher für vorbereitende infrastrukturelle Maßnahmen - einschließlich der Auslagerung von Friedhöfen verschlungen hat, ein gewiß bemerkenswerter Schritt.
Der Entscheid aus Moskau markiert das Ende eines Vorhabens, für das in der Anfangsphase der Planung (1974) 119Mio. Rubel veranschlagt worden waren, eine Summe freilich, die sich bis 1980 schon auf dem Reißbrett glatt verdoppelt hatte. Dafür sollte ein Kraftwerk errichtet werden, das mit 300 MW Leistung zwar die chronisch defizitäte Energiebilanz Lettlands aufbesserte, dies aber um den Preis einschneidender Eingriffe in das Urstromtal der Daugava (dt. Düna). Nach der Fertigstellung des Dammes wäre nämlich ein 200km (!) langer, weit in das benachbarte Weißrußland zurückreichender Stausee entstanden, dem mehr als 2.200ha landwirtschaftlich genutzter Fläche (darunter fruchtbarster Ackerboden), 2.000ha zum Teil hochwertigen Waldes und zahlreiche ökologisch einzigartige Biotope hätten geopfert werden müssen.
Es war vorgesehen, an die 4.500 Menschen aus 80 bewohnten Orten in Lettland und 62 in Weißrußland umzusiedeln.
Mit den Bauarbeiten für das Wasserkraftwerk bei Daugavpils wurde 1979 begonnen. Einwände, die sich an der Erhaltung der Umwelt orientierten, galten zu jener Zeit als Angelegenheit liebenswert querulanter Literaten und ähnlich inkompetenter Zeitgenossen.
„Laien“ mobilisieren Sachverstand
Dem „Hydro-Projekt„-Institut in Moskau, muß es allerdings als blanke Ironie des Schicksals erschienen sein, daß das „Aus“ für ihr Vorhaben in Lettland ausgerechnet in dem Milieu der sog. „schöpferischen Intelligenz“ seinen Anfang genommen hat. Die sonst als wissenschaftlich unbedarfte Laien abgestempelten Kulturschaffenden hatten unter geänderten politischen Bedingungen - Stichworte: Perestroika und Glasnost - ökologischen Sachverstand mobilisiert und eine letzten Endes erfolgreiche Bürgerbewegung gegen den Staudamm in Gang gebracht.
Sowjetische Autoren wie der Sibirier Walentin Rasputin ('Abschied von Matjora‘) oder Sergej Salygin (seit 1986 Chefredakteur des einflußreichen Kulturblattes 'Nowy Mir‘) waren darin allerdings mit Erfolg vorangegangen, als sie das gigantische Unterfangen zu Fall brachten, die großen sibirischen Ströme in die südlichen Republiken der UdSSR umzuleiten - ein Engagement im übrigen, das Michail Gorbatschow auf dem 27.Parteitag der KPdSU Ende Februar 1986 ausdrücklich anerkannte.
Dieses Signal sollte auch in Lettland nicht ungehört verhallen. In ihrer Ausgabe von 17.Oktober 1986 nahm sich die Kulturzeitschrift 'Literatura un Maksla Mitherausgeber: der sowjetlettische Schriftstellerverband zum ersten Mal des Wasserkraftwerkes bei Daugavpils an. In einem fast drei Seiten langen Artikel weisen die Autoren Dainis Ivans und Arturs Snips dabei detailliert und fachkundig nach, daß das Vorhaben sich unter keinerlie denkbarem Gesichtspunkt auch nur annähernd auszahlt, selbst rein ökonomisch nicht. Die darüber hinausgehende Kritik konzentrierte sich vor allem auf einen Punkt: in den Kalkulationen der Planer seien nicht einmal die unmittelbaren ökologischen Kosten des Kraftwerkes ausreichend berücksichtigt worden, von den langfristigen Folgen für die Natur ganz zu schweigen.
Am Ende ihrer Analyse stellte sich für Ivans und Snips die Frage, wozu dann das umweltzerstörende und volkswirtschaftlich unrentable Monstrum? Und sie lieferten eine Antwort gleich mit, die keiner der Verantwortlichen seither bestritten hat: was in Daugavpils an Elektrizität gewonnen werden sollte, würde allenfalls indirekt die Energiebilanz Lettlands aufbessern, in erster Linie jedoch als Reserve für den Fall dienen, daß es in den nahegelegenen Atommeilern von Ignalinan in der Litauischen SSR zu Störungen und damit eventuell zu einem Ausfall der Eigenversorgung mit Strom für die Steuerungs- und Kühlsysteme kommt.
Wasserkraftwerk als
Sicherheitsnetz für AKW
Bestückt mit Reaktoren desselben Typs, der in Tschernobyl zu traurigem Ruhm gelangt ist, soll Ignalina demnächst mit einer anvisierten Leistung von sechs Gigawatt zur weltgrößten Anlage dieser Art werden und vor allem die baltische Region mit Elektrizität beliefern. Ganz so, als ob die zuständigen Planer und Entscheidungsträger ihren eigenen Parolen von der Kernspaltung als moderner, absolut unproblematischer und technisch beherrschbarer Energiequelle nicht so recht trauen würden, war für Ignalina von Anfang an auch gleichsam ein Sicherheitsnetz vorgesehen - ein konventionelles Kraftwerk, sprich jenes, das bei Daugavpils errichtet werden sollte. Die Resonanz, die der Artikel von Ivans und Snips in der lettischen Öffentlichkeit auslöste, kann kaum anders als überwältigend bezeichnet werden. Sowohl einzelne Bürger als auch ganze Belegschaften überfluteten die Redaktionen von Zeitschriften und die Akademie der Wissenschaften der Lettischen SSR. In Rigaer Vorortzügen sammelten Jugendliche Unterschriften gegen das Wasserkraftwerk, während ein hochrangiger Ingenieur aus der Energiewirtschaft, gewissermaßen von Amts wegen ein Befürworter des Projekts, grantelnd befand, man könne doch des Volkes Meinung zu einem derart wichtigen Problem nicht dadurch erkunden, daß man - so geschehen in Riga - einen Tisch auf eine belebte Straße stelle und die Passanten frage, ob sie eine intakte Umwelt wünschten - dies müsse man als ein unseriöses Vorgehen betrachten.
Wie auch immer: Der Widerstand gegen den Staudamm bei Daugavpils nahm Züge an, die dem bundesrepublikanischen Beobachter aus der hiesigen Ökologie-Bewegung durchaus vertraut vorkommen werden; in der UdSSR hingegen stellen sie zwar mittlerweile kein absolutes Novum dar, besitzen aber immer noch Seltenheitswert. Schießlich waren es nicht weniger als 31.000 Einwohner Lettlands, die mit ihrer Unterschrift verlangten, daß das ganze Vorhaben grundlegend neu überdacht werden müsse. Zu guter Letzt bestellte der Ministerrat der Republik Ende November ein neues Gutachten bei einer Expertenkommission unter Federführung der lettischen Akademie der Wissenschaften. Mitte Januar'87 lag der Bericht schon vor. Mit 33 zu 3 Stimmen bestätigte die Kommission, daß der Bau des Wasserkraftwerks bei Daugavpils weder ökonomisch noch ökologisch zu verantworten sei.
Der Ministerrat der Lettischen SSR schloß sich diesem Votum an; der Finanzplan 1987 für das Kraftwerk wurde umgehend von 8 auf 2 Mio. Rubel gekürzt. Dieser Lösung standen allerdings die immer noch gültigen Vorgaben des Staatsplan-Komitees der UdSSR und diesbezügliche Beschlüsse auf dem 27.Parteitag der KPdSU entgegen.
Von der Republik
auf Unionsebene
Die letzte Hürde wurde auf der Ebene der zentralen Akademie der Wissenschaften der UdSSR genommen, die der lettischen übergeordnet ist. Der wissenschaftliche Rat für die Probleme der Biosphäre dieser Institution veranstaltete am 6. und 7.Juli 1987 in Riga eine weitere Anhörung.
Als Fazit des Hearings stellte sich auch die Akademie der Wissenschaften der UdSSR auf den Standpunkt, daß das Vorhaben in „ökonomischer, ökologischer und sozialer Hinsicht als unzweckmäßig zu betrachten“ sei; wie kaum anders zu erwarten, war es allein die Mehrheit unter den befragten Energetikern, die sich nicht zu dieser Ansicht durchzuringen vermochte.
Was die politische Dimension angeht, so scheint sich in diesem Fall jedoch jener Kerngedanke aus dem Entwurf der Perestroika durchgesetzt zu haben, der besagt, daß insgesamt nicht eine extensive, sondern intensive Form des Wirtschaftens anzustreben sei; vorrangig gilt es dabei, schon bestehende Kapazitäten besser zu nutzen, anstatt neue und womöglich unrentable bereitzustellen. Die sowjetische Regierung verfügte die endgültige Einstellung der Bauarbeiten für das Kraftwerk bei Daugavpils.
Atomlobby wittert
eine Kraftwerkslücke
Als der Sieg schließlich errungen und der Verzicht auf das Wasserkraftwerk bei Daugavpils sogar von Moskau aus verfügt worden war, blieb eine Frage: Wie sonst die Energiebilanz der hochindustrialisierten lettischen SSR aufbessern?
Mittlerweile gibt es eine Antwort: am 17.Februar 1988 war in dem Partei- und Regierungsorgan 'Cina‘ schwarz auf weiß nachzulesen, in der langfristigen ökonomischen Planung für Lettland sei zur Jahrtausendwende die Erstellung eines Atomkraftwerkes vorgesehen; bei derselben Gelegenheit wurde auch ein Standort in der Nähe von Liepaja benannt.
Daraufhin bestürmten Bürger ihre örtliche Zeitung mit besorgten Zuschriften. Die Tageszeitung 'Fadomju Jaunatne‘ begann daher ein Gespräch mit den zuständigen Fachleuten aus dem Energiebereich und der Projektplanung. Ohnehin erst auf die Zeit um das Jahr 2000 beziehe sich der Vorschlag, der ja noch kein Beschluß sei, beteuerte der Vorsitzende des Staatsplan-Komitees der Lettischen SSR, Miervaldis Ramans. Andere Interviewpartner der 'Padomju Janatne‘ erklärten dagegen völlig ungerührt, 1997 werde man mit den Bauarbeiten beginnen, während die Inbetriebnahme des ersten Blocks für 2006 vorgesehen sei. Mit einer angestrebten Endleistung von vier Gigawatt soll das Atomkraftwerk bei Liepaja schließlich die weltgrößte Anlage dieser Art werden.
Es macht schon schaudern, mit welcher Kaltschnäuzigkeit die Experten an ihr Vorhaben herangehen. Den Einwand, das Kühlwasser des geplanten Atomkraftwerks könnte die Ostsee über Gebühr belasten, kontern sie mit der verblüffenden Auskunft, das Meer sei ja bekanntermaßen unausschöpfbar. Weil in der Lettischen SSR ein Mangel an Arbeitskräften besteht, müßten für den Bau der Kernreaktoren Arbeiter aus anderen Regionen der Sowjetunion herangezogen werden - kein Problem, so die Gigawatt-Verfechter, dann werde man halt für diese Immigranten eine neue Stadt für 30.000 bis 40.000 Einwohner errichten. Da dies allerdings in einer Republik geschehen soll, in der das Verhältnis zwischen den verschiedenen Nationalitäten ohnehin angespannt ist, zeugt es nicht gerade von Feinfühligkeit, wenn die verantwortlichen Planer eine solche Maßnahme als Beitrag zur unausweichlichen Internationalisierung der Bevölkerung auszugeben suchen.
Ein Blitz- und
Donnerkraftwerk?
Auch die sowjetische Atomlobby hat im Jahr zwei nach Tschernobyl wieder festen Tritt gefaßt; vollmundig heißt es in dem Gespräch mit der 'Fadomju Jaunatne‘: „Was soll das denn heißen - wir brauchen keine elektrische Energie! Das sind pure Emotionen. Einige Schlauberger schlagen vor, Sonnenkraftwerke zu bauen, diese hätten in der kapitalistischen Welt eine Zukunft. Sollen wir in Lettland ein Blitz- oder Donnerkraftwerk errichten? Die Einstellung zu Atomkraftwerken muß geändert werden. Tschernobyl wird sich nicht wiederholen.“ Ob die Demonstranten in Liepaja wohl an diese Worte gedacht haben, als sie ihre Kundgebung mit einer Schweigeminute für die Opfer von Tschernobyl beendeten?
Derselbe Experte auf die Frage, was wohl die größten Hindernisse für den Bau des Atomkraftwerks an der Ostsee seien: „Eure (d.h. die lettisch, Anm. d. Red.) Gesellschaft. Es gibt sogar in offiziellen Institutionen viele, die meinen, daß Lettland kein Atomkraftwerk benötige. (...) Sobald man bei euch das Wort Atom fallen läßt, erschlottern alle.“ Wie weit in der Bevölkerung das Unbehagen an diesem Vorhaben gediehen ist, läßt sich an jenen 23.081 Unterschriften ablesen, mit denen auf der Demonstration die Ablehnung des geplanten AKW dokumentiert wurde (zum Vergleich: gegen das Wasserkraftwerk bei Daugavpils kamen circa 30.000 Unterschriften zusammen).
Hier steht nicht allein die Frage der Energieversorgung und der zukünftigen industriellen Entwicklung in der Lettischen SSR auf dem Spiel, sondern die demokratische Umgestaltung in der Sowjetunion. Noch Ende Juni hatte sich die 19.Parteikonferenz der KPdSU für eine dezentralisierte Wirtschaftspolitik und - damit einhergehend - für eine Ausweitung der Machtbefugnisse der Sowjets auf allen Ebenen ausgesprochen. Die geplanten Kernreaktoren bei Liepaja könnten dabei eine Probe aufs Exempel abgeben: Der Stadtsowjet vin Liepaja, der die Bevölkerung hinter sich hat, tritt hier gegen das Unionsministerium für Atomenergie an. Wo jedoch übergeordnete, gesamtgesellschaftliche Interessen geltend gemacht werden, da dürfte es um die Erfolgsaussichten für den Protest von Bürgern und örtlichen Sowjets schwierig bestellt sein.
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