: Im Staat der Mulle wird sich angepaßt
■ Neues über den auch gesellschaftlichen Orientierungssinn der Spezies der Mulle weiß ein Frankfurter Wissenschaftler zu berichten
Heide Platen
Der Mull ist ein sehr unglaubwürdiges Tier. Dies stellte sich schon heraus, als wir in dieser Zeitung über den Nacktmull berichteten (siehe taz vom 21.11.1987) . Ehe wir uns deshalb seinem Vetter, dem Graumull zuwenden, noch einmal kurz eine Zusammenfassung. Das Tier ist ein Säuge und Nagetier. Es ist ca. zehn Zentimeter lang, kommt niemals an die Erdoberfläche, lebt in Gängen und Nestern unter der Erde, ist blind und kann genau so schnell vorwärts wie rückwärts laufen, frißt Wurzeln und beginnt mit dem Verzehr immer am unteren Ende. Es lebt, das macht es so interessant, in einem sonst nur bei Insekten bekannten Staatswesen mit einer Königin und deren Hofstaat, die von den einfachen ArbeiterInnen versorgt werden. Aufstiegschancen hat nach dem Tod der Königin jedes weibliche Tier, die Erbfolge wird in heftigen Kämpfen der Weibchen untereinander ausgefochten. Der Graumull unterscheidet sich von seinen bis auf ein paar Borsten splitternackten Verwandten durch einen weichen kurzen Pelz.
Das Tier lebt in sechs Arten in Afrika, vor allem in Äthiopien, Kenia und Südafrika. Der Landstreifen, in dem es sich vermehrt, zieht sich pfeilgerade in südwestlicher Richtung durch Savannen und Wüsten. Es vermehrte sich aber auch - bisher einmalig in Europa - im Anbau des Biologischen Institutes der Universität Frankfurt. Hier hält Professor Burda, dem wir schon die Informationen über die Nacktmulle verdankten, seine Graumulle. Naturbeobachtungen der erst vor rund 20 Jahren entdeckten Tiere gibt es nicht.
Im Käfig sitzen Inmar und Maine, die Kinder von Inquisit und Marlene. Nebenan tummeln sich die Nachkommen Cicuwe, Cicuwele und Cicuweline. Sie alle gehören der Art der Cryptomys hottentottus an, sind Hottentotten-Graumulle. Nur, sie sehen einander bis auf die skurile Erscheinungsform, die mit den großen Hauern in Ober- und Unterkiefer und den stecknadelspitzen winzigen Augenrudimenten eher einer Mischung aus Rattenembryo und Miniaturwalroß erinnert, überhaupt nicht ähnlich. Ihre Felle sind unterschiedlich gefärbt von schwarz, grau, braun, graubraun, rotbraun, goldbraun, ocker in allen Schattierungen, gefleckt und einfarbig. Sie sind oft auch bei gleichem Alter unterschiedlich groß. Von ZoologInnen sind etwa 50 verschiedene Arten der Mulle beschrieben worden. Professor Burda nimmt an, daß dies durch die unterschiedlichst gefärbten Tiere bedingt ist. Er fand alle Fellfarben in einer Population und stellte fest, daß die Tiere um so dominanter in der Hierarchie des Mull-Staatswesens sind, je heller sie gefärbt sind.
Wie die blinden Tiere sich gegenseitig erkennen, ist bisher ungeklärt. Eventuell war die Farbe für die möglicherweise noch nicht blinden Vorfahren der Mulle wichtig. Auch die Demutsgesten, mit denen sich die Tiere verständigen, sind zuerst optische Signale, die erst beim direkten Aufeinandertreffen durch Tastsinn überprüft werden können.
Die Mulle sind optimal an ihre Umgebung angepaßt. Sie können ihre Entwicklung langen Hitze- und Dürreperioden anpaßen. Sie bewegen sich langsam und sie vermehren sich langsam, sie brauchen wenig Nahrung. Während Ratten nach 21 Tagen Tragzeit Junge bekommen, brauchen Mulle 100 Tage, das ist extrem lang für so kleine Tiere. Sie entwickeln sich auch, je nach den Gegebenheiten und den Bedürfnissen des Nestes, unterschiedlich schnell. Die Stillzeit kann 70 bis 140 Tage betragen, ihre Augen öffnen sie nach 13 bis 50 Tagen. Ihr Wachstum ist unterschiedlich und kann sich den Umständen entsprechend verlangsamen. Die Fellentwicklung hängt vom Gewicht, nicht vom Alter ab. So wächst zum Beispiel der erste Wurf nicht mehr oder kaum noch, wenn der zweite Wurf im Nest liegt. Das ist in normalen Zeiten nach 170 Tagen der Fall. Die Königin bewegt sich während der Tragzeit kaum, sie wird rund um die Uhr versorgt. Die jungen Tiere wiegen bei der Entwöhnung immer 33 Gramm (+- 0,3 g), das ausgewachsene Weibchen dagegen 60 bis 70 Gramm.
Professor Burda entdeckte, daß Junge, die von ihrem Stamm getrennt werden, schneller wachsen. Sie entwickeln dann aber nicht das soziale Verhalten, das zum Überleben in der Gruppe erforderlich ist. Burda: „Sie können sich nicht benehmen!“ Werden sie wieder zu anderen Tieren gesetzt, kämpfen sie unentwegt, auch, sonst bei Mullen nicht üblich, Männchen gegen Weibchen. Die bei den Mullen üblichen Demutsgesten gegenüber stärkeren Tieren haben sie nicht gelernt.
Die wichtigste Frage für den Frankfurter Forscher war: Wie orientieren sich die Mulle? Er untersuchte Gehör und Geruchssinn seiner Graumulle. Sie hören im Bereich von vier Kilohertz, also nicht besonders gut, stellte er fest. Auch der Geruchssinn ist nicht sonderlich ausgeprägt. Sie nehmen den Eigengeruch ihres Stammes war, andere Gerüche aber, so Burda, „interessieren sie nicht“. Ihre Nahrung finden sie durch Umhertasten. Burda nimmt an, daß eine Orientierung durch den Windzug in den Gängen, wie auch vermutet wurde, unwahrscheinlich ist. Bei jeder Änderung oder äußeren Störung des Gangsystems, das bis zu fünf Kilometer lang sein kann, müßte dann durch den veränderten Luftzug ein „Durcheinander“ entstehen.
Dennoch sind die Tiere in der Lage, Tunneleinbrüche zu umgehen und bei zerstörten Tunneln kilometerweit paralle Strecken anzulegen und ihre Nester wiederzufinden. Burda nimmt an, daß die Tiere sensitiv auf das Magnetfeld der Erde reagieren. Ähnliches wird bei Waldmäusen, Walen, Seehunden und einigen anderen Tieren vermutet, ist aber experimentell schwer nachzuweisen. Burda fand bei seinen Tieren dort, wo einstmals die inzwischen verkümmerten Augen sitzen, „ein dichtes Netz sensorischer Nerven“. Darin entdeckte er eisenhaltige Zellen. Eine Untersuchung, ob diese magnetisch sind, ist noch nicht abgeschlossen.
Entwicklungsgeschichtlich gehören die Mulle zu den ältesten Säugetierarten. Wie sie systematisch einzuordnen sind, ist umstritten. Am nächsten verwandt sind sie, vor allem in ihrem Sexualverhalten, den neuweltlichen Stachelschweinen. Rätselhaft ist die Frage, ob diese Tierarten gemeinsame Vorfahren haben können. Auf der urzeitlichen Landbrücke der Kontinente über Nordamerika sind keine Funde gemacht worden, die auf eine solche Verbindung schließen lassen. Die Überlegung, ob Mullvorfahren von Afrika nach Lateinamerika über das Meer getrieben worden sein könnten, sind hypothetisch.
Professor Burda, dessen kleiner Sohn die Forschungsobjekte schon mal mit der Spielzeugeisenbahn durch das Wohnzimmer rollen läßt, wehrt sich immer wieder vehement dagegen, daß die Mulle als aggressiv und primitiv verschrieen werden. Die scheinbare Aggressivität führt er auf ihre Blindheit zurück. Vermutete Angriffe werden erst einmal abgewehrt. Eltern allerdings seien ihren Jungen gegenüber sehr nachsichtig und ließen sich auch die Nahrung vor der Nase wegstehlen. Beide Eltern kümmern sich um den Nachwuchs. Das sei bei Nagetieren sonst sehr selten.
Er habe bei ihnen auch spielerisches Verhalten entdeckt. Eine zu ihnen gesetzte Maus hätten sie nicht etwa angegriffen, sondern mit ihr gespielt. Auch habe er gesehen, daß sowohl die jungen als auch die erwachsenen Tieren miteinander spielen.
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