VERGESSEN!

■ Die Filme des Belgiers Charles Dekeukeleire im Arsenal

Leute aus kleinen Ländern werden gerne übersehen, wenn es um die große Geschichte geht. Die Filme des Belgiers Charles Dekeukeleire waren lange Zeit vergessen; vielleicht auch, weil sie anders sind als die seiner avantgardistischen Zeitgenossen, die sich ebenfalls um eine neue Filmsprache bemühten. Einerseits sind Dekeukeleires Filme alltäglicher als etwa Richters Rhythmus-Filme oder Rene Clairs surrealistische Verfremdungsorgien: Dekeukeleire zeigt Boxkämpfe, rekonstruiert das Gefühl einer Motorradfahrt oder setzt einen Detektiv auf einen imaginären Fall von Eifersucht an. Andererseits wirken seine Filme weit moderner als die Werke der anerkannten Avantgardisten der zwanziger Jahre, weil Dekeukeleire sich nicht in Regelverletzungen und Verweigerungshaltungen gegenüber der konventionellen Filmsprache erschöpft.

Dekeukeleire suchte (und fand!) im Film jenen Augenblick, wo sich im Kopf des Betrachters ein Gedanke bildet. In Impatience (Variationen der Ungeduld, 1928) sieht man niemals irgendeinen der Mitwirkenden (Frau, Motorrad, Gebirge) in Bewegung, und doch hat man unablässig das Gefühl, das Motorrad müßte mit der Frau durch die Gebirgslandschaft rasen. Es ist dieser einfache Satz „Eine Motorradfahrerin fährt Motorrad“, der von Dekeukeleire in eine 33minütige filmische Raserei verwandelt wird, die mancherlei Überraschung bereithält: Zuerst ist die Fahrerin gar nicht als Frau zu erkennen, weil Lederbekleidung, Brille und Haube jegliche Körperform verdecken, dann sieht man vom Motorrad nur vibrierende Details oder manchmal gar das stillstehende (!) Rad, und schließlich sitzt die Frau überhaupt nicht auf dem Motorrad, doch die Simulation ihres Fahrerlebnisses mittels typischer Körperhaltung und lustvollem Genießen des Fahrens täuscht unser Gefühl und drängt uns den Eindruck von Bewegung auf, obwohl unsere Gedanken davon überzeugt sind, daß sie in Wirklichkeit auf keinen Fall fährt!

Frau und Motorrad werden so gezeigt, wie eine Landschaft seit jeher nur zu zeigen ist: in Detailaufnahmen. Eine Landschaft, die niemals als Gesamteindruck zu erfassen ist, wird durch diese Art der Aufnahme mit Mensch und Maschine zu einem filmischen Puzzle vereint. Impatience verknüpft darüber hinaus unsere Vorstellung einer Maschine und einer Frau zu einer erotischen Einheit: Leder, Fleisch und Stahl kombiniert mit stakkatohafter Bewegung und rauschender Raserei.

Nicht weniger rätselhaft ist die Wirkung von Histoire de Detective (1928), in dem Dekeukeleire schon 30 Jahre vor Godard dessen Bild- und Schriftmontagen vorwegnimmt. Manche Filmemacher sind ja kleine Detektive, die Spuren für eine Geschichte suchen. Histoire de Detective scheint die Geschichte des Detektivs T. zu erzählen, der den Ehemann einer eifersüchtigen Frau überwachen soll: „Wenn ich den Mann filme, erfahre ich vielleicht etwas über das Unglück zwischen den beiden“, denkt er sich. Ehemann Jonathan unternimmt Ausflüge nach Brügge oder ans Meer, aber der Film zeigt außer Stadtplänen und Schriftzeichen nur Jonathan, wie er auf einer Brücke hin- und hergeht, um mal auf der linken, mal auf der rechten Seite von der Brücke hinabzuschauen. Während die Zwischentitel die historischen Bauwerke erklären, die Jonathan angeblich sieht, erblickt der Zuschauer nur das Fragment einer Geschichte, das sich erst im nachhinein zu einer nachvollziehbaren Handlung zusammenfügt: „In der Abfolge der Bilder die Entstehung eines Gedankens rekonstruieren“, sagte Dekeukeleire. Zu sehen sind auch die Orte, die Geheimnisse bergen könnten (Ruinen, Fabriken, Berge), aber die Art der filmischen Aufnahme dieser Orte scheint das darunter verborgene Geheimnis nur zu vertiefen. Man erfährt eher etwas über das physische Krankheitsbild einer Gegend als über die psychischen Beschädigungen der Bewohner.

Neben dokumentarischen Filmen (etwa über die Geschäftsinteressen der Wallfahrtsorganisationen in Visions de Lourdes) begann Dekeukeleire in den dreißiger Jahren mit der Arbeit an Spielfilmen, aus der aber nur der halluzinatorische Le mauvais oeil (Das böse Auge, 1936) hervorging. Dieser Phantastische Film nimmt sich das Übersinnliche und die ländliche Form des Aberglaubens zum Thema, um in wunderschönen Aufnahmen von zusammenstürzenden Windmühlen, sich rückwärtsbewegenden Kühen und ausgelassenen Hahnenkämpfen ein angeblich vom Teufel besessenes Dorf zu entwerfen. Doch es ist nicht der Teufel, sondern die Grausamkeit der einfachen Leute, die einem den Schauer über den Rücken jagen läßt. Weil der Film nicht den erhofften Publikumserfolg hatte, wandte sich Dekeukeleire anschließend wieder kurzen Dokumentarfilmen zu: „Mit einer im tiefsten seines Inneren versteckten Bitterkeit hat er sich damit abgefunden, nur manchmal verrät sich deren Widerschein in einem Anflug von Traurigkeit, wenn er lächelt“, schrieb Paul Davay in einem Aufsatz über diesen experimentierfreudigen Belgier, der in allen geschriebenen Filmgeschichten vergessen wurde.

Torsten Alisch

Am Sonntag (4.September) um 22.15 Uhr und am 8./9.September um 18 Uhr im Arsenal