: Disput um den Spätgeborenen
Frankfurter Jüdische Gemeinde uneinig über Kohls Teilnahme an der Gedenkveranstaltung zur „Reichskristallnacht“ / Gemeindevorsitzender Bubis: Der Kanzler ist ein „Tolpatsch“ ■ Von Vera Gaserow
Berlin (taz) - Im Bundespresseamt heißt der Kommentar: „Kein Kommentar“, und beim Zentralrat der Juden in Deutschland ist man nicht sehr „glücklich“ über das, was zur Zeit in Frankfurt passiert. Im Vorfeld der zentralen Gedenkveranstaltung, mit der am 9.November an den 50.Jahrestag der von den Nazis zynisch als „Reichskristallnacht“ betitelten Zerstörung von Synagogen und jüdischen Geschäften erinnert werden soll, ist es in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt zum Streit gekommen. Zentraler Konfliktpunkt: Soll der Bittburg-Besucher und Schöpfer der „Gnade der späten Geburt“, Helmut Kohl, auf der Gedenkveranstaltung in der Frankfurter Synagoge reden dürfen?
Vor zwei Monaten hatte eine knappe Mehrheit der anwesenden Gemeindemitglieder mit deutlichem Blick auf den bevorstehenden Kanzlerauftritt beschlossen, sämtliche Politiker wieder auszuladen. Mit 49 gegen 34 Stimmen plädierten die Gemeindemitglieder dafür, die Politiker sollten eine eigene Veranstaltung außerhalb der Synagoge planen. Jetzt hat der Vorsitzende der Frankfurter Gemeinde, Ignaz Bubis, vielleicht ungewollt, Öl ins Feuer gegossen. In einem druckfrischen Interview der Monatszeitschrift der hessischen Grünen 'Stichwort: Grün‘ spricht sich Bubis zwar für einen Auftritt Kohls aus. Gleichzeitig äußert er jedoch wenig Schmeichelhaftes über den umstrittenen Gastredner. Bubis wörtlich: „Man kann Helmut Kohl Tolpatschigkeit, mangelndes Gespür und mangelnde Sensibilität vorwerfen, aber das reicht nicht zur Ausladung.“ Der Kanzler bekomme in Frankfurt „die Chance, sich zu korrigieren“. Bubis Rat an Kohl: „Er soll sich die Rede vom Bundespräsidenten schreiben lassen.“ Manche Gemeindemitglieder, so räumt Bubis in dem Interview ein, würden aus Protest gegen Kohl der Gedenkveranstaltung fernbleiben.
Den Ablauf der Gedenkveranstaltung hatte der ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Nachmann, so geplant. Darüber war es zu heftigen Kontroversen mit seinem Nachfolger, dem jetzigen Vorsitzenden Galinski, gekommen, der vehement für eine zentrale Gedenkveranstaltung in Berlin plädiert hatte. Im Zentralrat habe es jetzt keine erneuten Diskussionen um die Teilnahme Kohls gegeben, erklärte Galinski gestern auf Anfrage der taz. Man habe die gewählten Repräsentanten dieses Staates zu respektieren und könne die unter Nachmann ausgesprochenen Einladungen nicht rückgängig machen.
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