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■ Nach einem Interview mit Michail Philippowitsch Schatrow

Der rundliche weißhaarige Herr fühlt sich heute Abend nicht besonders wohl. Michail Philippowitsch Schatrow ist am Freitag eine halbe Stunde vor seinem Auftritt in der Majakowski Galerie aus Ost-Berlin eingetroffen, um kurzfristig einen anderen Gast zu ersetzen. Die Prominenz im Saal, Osteuropakundler, Kameras und Mikrofone gelten ihm, dem Stellvertreter, der zu der fremden Umgebung sichtlich noch keinen Bezug gewonnen hat.

Schatrow, Dramenautor, Mitbegründer des neuen sowjetischen Bundes der Theaterschaffenden, kommt aus einer Familie von Berufsrevolutionären. Zahlreiche Verwandte fielen dem stalinschen Terror zum Opfer. Das Drama seines Lebens brauchte er nicht zu erfinden: In den letzten Jahren hat er sechs Stücke auf die Bühne gestellt, die sich mit der Geschichte der Oktoberrevolution und des Stalinismus befassen. Einer breiten sowjetischen Öffentlichkeit wurde er bekannt, als das Fernsehn voriges Jahr vier Episoden aus dem Leben Lenins von ihm ausstrahlte. Zu Beginn dieses Jahres konnte das Publikum erstmals eines seiner Stücke lesen. Die Zeitschrift 'Snamja‘ veröffentlichte sein neuestes Drama Weiter, weiter, weiter..., in dem Lenin, Stalin, Trotzki, Rosa Luxemburg, Kerenski, Miljukow und andere über den richtigen Weg zum Sozialismus, die Zwänge der Geschichte, über Lenins Testament und über den Tod parlieren. Seither reißt die Diskussion über Schatrow nicht ab. Sogar die 'Prawda‘ machte ihm Vorwürfe. Im Land reist er von einer Diskussionsveranstaltung zur nächsten.

Auch diesen Abend eröffnet er routiniert: Als Gast der 19. Parteikonferenz im Juni beobachtete er das Stimmenzählen im großen Saal des Kreml. („Der Raum wurde zum Händehochhalten geschaffen und nicht für die parlamentarische Arbeit“). Zwei Delegierte aus der Provinz mußten ihre Nein-Karten acht Minuten lang hochhalten, um erfaßt zu werden. In dieser Zeit redete ihr Delegationsleiter ununterbrochen auf sie ein, ihr Verhalten sei eine Schande. Einer der beiden ließ sich nicht erweichen.

Schartow: „Ich hätte an seiner Stelle anders gestimmt, aber ich war stolz auf ihn. Es gibt immer mehr sowjetische Bürger, die ihre Verantwortung wahrnehmen. Wir befinden uns auf dem Weg von einem Staat, in dem Menschen regieren, zu einem, in dem Gesetze regieren. Kein revolutionärer Prozeß kann wie geschmiert verlaufen, bei der gegenwärtigen Umgestaltung unseres Landes kommen viele bisher verborgene Widersprüche ans Licht, so auch die nationalen. Aber jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Im Vergleich mit der Zeit vor vier Jahren sind wir einen gewaltigen Schritt weiter, im Vergleich mit dem, was noch nötig ist, sind es erst wenige Millimeter von vielen Kilometern.“

Was in den dreißiger bis fünfziger Jahren geschehen ist, sei in der Oktoberrevolution selbst angelegt gewesen, auch in Lenin. Doch im Gegensatz zu anderen ist für Schatrow keine Konsequenz, die von Lenin zu den stalinistischen Verbrechen geführt habe, sondern ein schrecklicher Bruch.

Die Sowjetunion werde nicht nur von Positionen aus kritisiert, die sich auf dem Boden der Oktoberrevolution bewegten. Aber selbst mit Kritikern wie Solschenizyn müsse man sprechen. Schatrow würdigt den großen Schriftsteller, der viel zur Wiederherstellung der historischen Wahrheit beigetragen habe: „Die Strafe der Ausweisung ist in unserem Gesetzbuch nicht enthalten. Die Zeit, in der man mit Andersdenkenden so abrechnete, muß vorbei sein. Gegen das Wort kann man nur mit dem Wort kämpfen!“

Ein Student im Saal erzählt, daß Kommilitonen mit Bestürzung die Versammlung der neofaschistischen, großrussisch-nationalen Gesellschaft Pamjat in der Sowjetunion erlebt hätten. Schatrow: „Vor kurzem hatte ich ein Treffen mit Aktivisten dieser Organisation. Am Sonntag haben wir im Oktabrskij-Saal in Leningrad vor 4.000 Menschen gesprochen und über 100 Vertreter dieser Bewegung waren dort anwesend. Und wie unangenehm es mir auch immer sein mag, daß es auf der Bühne auch solche Dinge gibt, so ist das doch trotzdem eine Tatsache. Und immer wieder versuchten sie dort, uns in das Flußbett des Skandals zurückzuweisen, als ob wir nicht versucht hätten, die Ignoranz durch Wissen zu ersetzen. Das ist, glaube ich, der einzige Weg, solange ein Dialog stattfindet und diese Leute keine Gesetze verletzen.“

Mit dem Wort möchte Schatrow auch gegen die Überreste des Stalinismus ankämpfen. Der Verband der Opfer des Stalinismus hat ihn damit beauftragt, eine große öffentliche Anhörung zu organisieren, bei der die Opfer, Augenzeugen und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland zur Frage der Schuld Stellung nehmen sollen, eine Art „Stalintribunal“, obgleich er dieses Wort vermeidet.

„Zu Trotzki werden wir früher oder später auch unbedingt kommen. Wir werden diese Persönlichkeit nicht verschweigen, und er wird seinen Platz in der Geschichte einnehmen. Vor dem gegenwärtigen Plenum des obersten Gerichts liegt ein Antrag des Generalstaatsanwalts zur Rehabilitierung von Trotzkis Sohn vor. Und zwar desjenigen, der im Lande geblieben war. Gleichzeitig muß ich aber daraufhinweisen, daß ich für die vielen Anhänger dieses Mannes ein neues Stück schreiben werde, in dem es um das Jahr 1923 geht. Dieses Jahr wird aus dem Blickwinkel von Stalins Arbeitszimmer in den ersten drei, vier Monaten geschildert. Ich kenne Trotzkis Memoiren von vorne bis hinten und auch, was er in den anderen Werken geschrieben hat. Und nichtsdestoweniger habe ich angesichts seiner 'Lossagung‘ im Jahr 1923 eine Menge Fragen an ihn. Jedenfalls haben wir mit der Legende Schluß gemacht, daß Trotzki während der Revolution irgendjemandes Agent war. Er war ein hervorragender Revolutionär, ein kleinbürgerlicher Revolutionär, ein Nichtbolschewik. Aber an seiner Rolle während der Oktoberrevolution, beim Aufbau der roten Armee während des Bürgerkrieges kann nicht gezweifelt werden. Man muß sich wirklich sehr aufmerksam und untendenziös in dem ganzen Material orientieren, das uns die Geschichte von dieser bemerkenswerten Persönlichkeit hinterlassen hat.“

Auch in Schatrows eigener Familiengeschichte kommen neue Tatsachen ans Licht. Erst vor einer Woche mußte er erfahren, daß sein Vater 1938 unter der Folter in einem stalinschen Lager sich selbst bezichtigt hatte.

Auf eine andere, sehr persönliche Weise, ist Schatrow in diesem Jahr der historischen Wahrheit ein Stückchen näher gekommen. Der Mann, der seit 30 Jahren die „Krebsgeschwüre“ der sowjetischen Geschichte erforscht, der als erster ein breiteres Publikum von Lenins politischem Testament in Kenntnis gesetzt hat, mußte sich bisher historische Unterlagen „auf abenteuerliche Weise“ verschaffen. Dabei halfen ihm zahllose Altrevolutionäre und pensionierte Politiker, darunter auch das Ehepaar Chruschtschow. Dieses Jahr durfte Schatrow erstmals das Stalin-Archiv betreten.

Barbara Kerneck