: Vom Nachttisch geräumt: TABUCCHI
Antonio Tabucchi, geboren 1943, ist einer der beachtetsten italienischen Autoren seiner Generation. In Der Rand des Horizonts erzählt er die Geschichte eines Leichenschaubeamten, der versucht, etwas über einen bei ihm eingelieferten unbekannten Leichnam in Erfahrung zu bringen. Eine umständliche, mit viel Geherei verbundene Arbeit. Erfolglos außerdem. Er erfährt zwar den Namen des Toten, bringt einiges über ihn heraus. Aber je weiter er kommt, desto weiter entfernt sich der Rand des Horizonts. Der Mann war bei einem Feuergefecht zwischen Gangstern, Terroristen oder? - man weiß das nicht genau - und der Polizei umgekommen. Gehörte er dazu, oder stand er nur im Weg? Der Leichenschaubeamte legt es sich gegen Ende der Erzählung so zurecht: “... jetzt sah er die Szene deutlich vor sich; so war es geschehen, und er wußte es. Er sah ihn aus seinem Versteck kommen und sich absichtlich in die Geschoßbahn der Kugeln stellen, die präzise Ballistik suchen, die ihm den Tod brachte; er sah ihn mit Kalkül und Entschlossenheit den Gang entlang gehen, wie einen, der der Geometrie einer Geschoßbahn folgt, um für etwas zu büßen oder einfach einen Zusammenhang zwischen den Dingen herzustellen.“ Den stiften die Dichter. Der Mann hat seinen Tod erfunden, wie Tabucchi seine Geschichte erfand. Ein Jack-in-the box-Spiel, dessen Karten freilich gar zu offen verteilt werden. Seine Freundin sagt ihm gleich am Anfang als sie ein Foto des Unbekannten sieht: „Mit Bart und zwanzig Jahre jünger könntest du es sein“. Diese Überdeutlichkeit versucht Tabucchi zu mildern, indem er die ganze Geschichte ins Atmosphärische auflöst. Er erzählt sie wie früher Geschichten erzählt wurden: viel Platz für Details, aber Ort und Zeit bleiben undefiniert. Die Stadt, in der die Geschichte spielt, ist eine Stadt am Meer, vor die Berge gepreßt, ohne Namen. Alles wie hinter einem Schleier. Auch die Beziehungen der Hauptfigur zu Freundin und Freund altmodisch distanziert wie in der Novellistik der Neuromantiker. Die Welt des Terrorismus und der Computer geschildert, als wäre es das „Märchen der 672.Nacht“. Ein extrem reizvoller Versuch. Mir ist er zu stimmig geworden.
Antonio Tabucchi, Der Rand des Horizonts, Hanser-Verlag, 109 Seiten, 10,80 DM
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