Vom Nachttisch geräumt: KORSETT

1912 und 1913 erschienen die ersten Briefe des Afrikaners Lukanga Mukara, in denen er von seiner Forschungsreise ins innerste Deutschland berichtete. Der Autor der Fiktion war Hans Paasche, der der Großmann- und Großreichsucht des wilhelminischen Deutschland einen deutlichen Spiegel vorhielt. Paasches Pamphlet war bald ein Grundtext der Lebensreformbewegung. Man liest die Seiten noch immer mit Vergnügen. „Hätten die Frauen das Gerüst nicht, so würden sie zusammenklappen und könnten nicht aufrecht gehen. Das Gerüst ist wahrscheinlich eine uralte Erfindung der Männer. Sie haben es, um trotz Trägheit und schlechten Lebensgewohnheiten an Ausdauer und Gesundheit überlegen sein zu können, den Frauen aufgezwungen. Das Leibgerüst ist so eingerichtet, daß die Frau nicht vollständig atmen kann. Der Leib wird an der Stelle, wo er sich ausdehnen soll, fest zusammengehalten, und ein Teil der Lunge fault innen und stirbt, weil er gehindert wird zu leben. Es fehlt ihr nämlich der tiefe Atem. Infolgedessen kann die Frau nicht laufen und keine Bewegung ausführen. Deshalb verkümmert das Fleisch unter dem Gerüst, und der Körper wird oben und unten furchtbar dick, was die Wasungu schön finden. Schon im jungfräulichen Alter wird der Leib der Mädchen eingeschnürt, weil man fürchtet, sie könnten zulange gesund bleiben. Der beabsichtigte Erfolg tritt auch ein: die meisten Frauen sind frühzeitig krank und hinfällig, und mit einer gewissen Schadenfreude sprechen die Männer dann von dem 'schwachen Geschlecht‘.“ Hans Paasches bis zur Kenntlichkeit verzerrender Blick hat ihn das Leben gekostet. Im Mai 1920 zog ein sechzig Mann starker Polizeitrupp auf sein Gut und erschoß ihn: „Ein Zusammentreffen nicht voraussehbarer unglücklicher Umstände, für die niemand strafrechtlich verantwortlich gemacht werden könne“, so eine im Nachwort von Iring Fetscher zitierte amtliche Verlautbarung. Der Kapitänleutnant a.D., den sein Einsatz in der Kolonialarmee zum Pazifisten gemacht hatte, war der deutschen Reaktion ein Dorn im Auge. Leider gab es davon nicht genug.

Hans Paasche, Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland, Donat-Verlag, herausgegeben von Franziskus Hähnel und mit einem Nachwort von Iring Fetscher, 111 Seiten, zahlreiche zweifarbige Abbildungen, 12,- DM