: Vom Nachttisch geräumt: JUNG
C.G.Jung, Psychoanalytiker mit einem Faible für den Führer und einem Haß gegen moderne Kunst, wird heute wieder sehr geschätzt. Einen Einblick in seine Arbeitsweise bietet ein Band, der ihn bei der Diskussion mit seinen Schülern zeigt. Gerade für Leute, die sich nach Blochs Verdikt Enthaltung verordnet haben, ist der Band ein guter Einstieg. Er sammelt Protokolle von zwischen 1936 und 1941 veranstalteten Seminaren über Kinderträume. Genauer: über Erinnerungen von Erwachsenen an ihre Kinderträume. Jung bietet hier immer wieder knappe Zusammenfassungen seiner Theorie. Wenn er zum Beispiel die Freudsche freie Assoziation seiner Amplifikation gegenüberstellt: „Die Frage an den Träumer lautet daher: 'Was fällt Ihnen zu X ein, was denken Sie darüber? Und was fällt Ihnen weiter zu X ein?‘ - Die Fragestellung des freien Assoziierens dagegen lautet: 'Was fällt Ihnen zu X ein? Und dann? Und dann? Weiter!‘ Auf diese Weise wird zu den Einfällen weiter assoziiert statt zu X.“ Wunderschön erkennt man auch die ganze Jungsche Psychologie, wenn er freudig feststellt: „Wir können diesen Traum also befriedigend erklären ohne persönliches Material.“ Einen sehr sympathischen Jung zeigen die nicht seltenen Stellen, da er seine Schüler, die ihm gar zu genau abgeschaut haben, wie er sich räuspert und wie er spuckt, zurechtweist und von der gar zu weit schweifenden Amplificatio in die Jahrtausende umspannenden Abgründe des kollektiven Unbewußten wieder zurückführt auf den Tugendpfad der individuellen Therapie: „Für die praktische Behandlung nutzt es nichts, von Archetypen und Bärenhäutern zu reden. Wir müssen spezifischere Fragen stellen nach den Ereignissen des Vortages und überhaupt nach der ganz individuellen Lage, in welcher sich das Kind befindet.“ An anderer Stelle bemerkt er: „Es ist Ihnen bei diesem Vortrag passiert, daß Sie das Material begeistert hat. Sie haben interessante Sachen dazu gelesen. Aber das ist eine Verführung. Wenn Sie all das bringen, werden wir alle ganz benebelt. Wir schweben davon und kommen vom Traum zu weit weg. Sie müssen deshalb das Material auf das Allernötigste beschränken; wir müssen an das arme Publikum denken, das vollkommen besoffen wird. Das geht zu weit, wenn Sie uns so verführerische Texte vorlesen. Das ist gefährlich. Bei einem so einfachen Traum müssen wir uns möglichst nahe ans Material halten. Sonst gibt es einen Riesenballon, der uns über Länder und Völker treibt, und schließlich wissen wir nicht mehr, wo wir aufgestiegen sind und finden den Heimweg nicht mehr ... Es ist viel zu viel Hülle noch, und zu wenig Kern.“ Beschreibt Jung da nicht sehr genau, wie es vielen mit seinen Analysen geht? Mir schwindelt jedenfalls der Kopf, wenn Jung von einer Vision von Miß Miller aufs alte Theben, auf Gott Indra, den Schwedenkönig Domaldi, auf Rama, chinesische Bräuche und griechische Phalluskörbe zu sprechen kommt. All das auf einer Seite. Der Vorteil von Nachbetern ist, daß man sich in seiner Karikatur erkennen könnte. Aber wer tut das schon? Jung jedenfalls scheint es nicht getan zu haben. Für geradezu inspiriert halte ich Stellen wie diese: „Sie wissen ja, es gibt Kinder, die jahrelang in der Hölle leben, ganz übernatürlich böse sind oder sich selber in einem höllischen Zustand fühlen, furchtbar unglücklich, gequält, Kinder, für welche die Kindheit die wahre Hölle ist. Das sind Kinder, die im Unbewußten gefangen sind. Dieses Kind beispielsweise ist ein Kind, das auf längere Zeit hin nicht sich selbst ist, sondern etwas Bösartiges, Geheimnisvolles. Solche Kinder sind 'inside the tiger‘. Sie sind umgeben von einem Mantel von Dämonie. Ich erinnere mich an einen solchen Jungen: er war ein böser Geist, der alle anderen gequält hat. Er sagte aber einmal auf einem Schulausflug zu mir, als wir zufällig einmal allein waren: 'Ich weiß schon, ich bin ganz schlimm, aber hier, wo keine Menschen sind, da bin ich jetzt ganz richtig.‘ Er war vierzehn Jahre alt. Da ist es von ihm abgefallen, nämlich, was ihm die Umwelt aufgenötigt hatte. Solche Erscheinungen finden nicht natürlicherweise statt, sondern durch die Atmosphäre, die aus dem unbereinigten Unbewußten der Eltern entsteht. Eine dicke Mauer trennt diese Menschen von ihrer eigenen Seele, und das Kind fällt eben gerade dort hinein, wird aus dieser Atmosphäre heraus geboren und ist dann davon behext, besessen von jenem Finstern, von dem die Eltern nie etwas wissen wollen.“
C.G.Jung, Seminare - Kinderträume, hrsg. von Lorenz Jung und Maria Meyer-Grass, Walter-Verlag, 678 S., xxxxx Mark
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