Von gefälschten Zitaten und unglücklichen Formulierungen

■ Der problematische Versuch des Imanuel Geiss, im Historikerstreit zu schlichten

Armin Trus

Die Ketzer traten, wie generell der fundamentalistisch -apokalyptisch-chiliastische Dualismus, in schweren Krisen besonders militant auf, vor allem in der großen Pest 1348/49 als Flagellanten (...), als radikale Hussiten (...), in der Reformation als Anabaptisten (...), in der englischen Revolution 1640-60 als 'Fifth Monarchists‘, 'Ranters‘ und ähnliche Gruppen. Auch in der gegenwärtigen Weltkrise bricht der Fundamentalismus wieder in seiner religiösen Urform durch, von protestantischen Sekten in den USA über die Evangelikalen bei uns, die Schi'a Persiens, die Sunniten oder jüdisch-orthodoxe Fundamentalisten bis zu radikalen Fundamentalisten in Hinduismus und Buddhismus, neuerdings besonders militant bei den Sikhs.“

Dreimal darf geraten werden, welchem Buch dieses Zitat entnommen wurde. Einer Sozialgeschichte der Häresie? Falsch. Einer Studie über das Verhalten von Menschen in Krisenzeiten? Falsch. Einer Untersuchung über geistesgeschichtliche Ursprünge grüner Fundis? Auch falsch. Ein anderes Zitat hilft Ihnen wahrscheinlich auf die Sprünge: „Mit der Urgewalt eines Vulkanausbruchs kam der 'Historikerstreit‘ über die Bundesrepublik - scheinbar jäh, ohne Vorwarnung. Die geistig-politische Landschaft unserer Republik ist verändert, plötzlich und tiefer, als je ein politisches Ereignis es vermochte, das von innen kam und von einem einzelnen ausging.“

Genau: es geht hier um den sogenannten „Historikerstreit“. Noch genauer: um die jüngste Publikation zum Thema, die unter dem Titel Die Habermas-Kontroverse. Ein deutscher Streit dem Bremer Historiker Imanuel Geiss aus der Feder geflossen ist.

Imanuel Geiss wurde wie so viele Historiker, die die Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik derzeit prägen, Anfang der dreißiger Jahre geboren. Seine Laufbahn als Historiker begann mit der Kontroverse um die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland im Ersten Weltkrieg, der sogenannten Fischer-Kontroverse“. Geiss gehörte in diesem Zusammenhang zu den wenigen Verteidigern Fritz Fischers, der in den sechziger Jahren durch sein Buch Griff nach der Weltmacht die bis dato herrschende Auffassung vom bloßen „Hineinschlittern“ Deutschlands in den Krieg nachhaltig erschütterte. Mit dem Stigma eines „linken Wissenschaftlers“ behaftet, hatte es Geiss fortan schwer in der überwiegend stramm-konservativen Zunft der Historiker. Verschärfend kam hinzu, daß seine geschichtswissenschaftlichen Qualitäten auch bei politisch gleichgesonnenen Kollegen höchst umstritten waren. Dieser doppelte Außenseiterstatus führte Geiss auf seinerzeit exotisch anmutende Gebiete der Forschung, wie etwa Panafrikanismus. Im Ringen nach Akzeptanz veröffentlichte er dann ein sechs Bände umfassendes Standardwerk mit dem Titel Geschichte griffbereit. Rätselt man in der Fachwelt zwar noch, für wen dieses konzeptionell mißlungene Opus eigentlich ein Standardwerk darstellt, muß Geiss dennoch eine enorme Arbeitsleistung bescheinigt werden. Indes, sein Status blieb derselbe. Sein neues „Werk“ stellt nunmehr einen weiteren Anlauf dar, Anerkennung zu finden, dieses Mal vor allem bei den konservativen Vertretern der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft.

Mit der Habermas-Kontroverse hat sich Geiss nicht gerade wenig vorgenommen. Er will - quasi als oberste Schlichtungsstelle - eine „inhaltliche Basis“ entwerfen, auf der die „Habermas-Kontroverse“ „konstruktiv ausgeräumt“ werden könnte. Das ist ein ehrenwertes Anliegen, zumal in diesem Jahr wieder ein Historikertag stattfindet. Auch wäre damit „ein erster Schritt zur“ - so Geiss wörtlich „Sanierung der Deutschen in der Bundesrepublik“ geleistet. Derlei Sanierungsvorschläge sollen in bester taciteischer Manier „sine ira et studio“ entfaltet werden, womit er Hans -Ulrich Wehler eine klare Absage erteilt, der in seinem „polemischen Essay“ „Entsorgung der deutschen Vergangenheit“ „cum ira et studio“ zugange war.

Wie sieht nun aber das Programm aus, mit dem Geiss die Deutschen sanieren will? Zunächst: Alles ist immer so einfach, wie man es sich macht. Geiss macht es sich besonders einfach. Für ihn ist es eine ausgemachte Sache, daß der jüngste Vulkanausbruch in der politischen Landschaft der Bundesrepublik auf eine Einzelleistung von Jürgen Habermas zurückgeht, die darin bestand, den Historikern Nolte, Hillgruber, Hildebrand und Stürmer NS-apologetische Tendenzen vorzuwerfen. (Um in seinem Bilde zu bleiben, redet Geiss vornehmlich von der „Habermas-Eruption“.) Damit aber lag Habermas, Geiss zufolge, völlig falsch. Die von dem Nobelpreisträger Elie Wiesel so bezeichnete „Viererbande“ habe nämlich mit NS-Apologie keineswegs etwas am Hut. Das wiederum bemüht sich Geiss durch eine - laut Presse -Information - „akribische Kontrolle“ der von Habermas und seinen „Kombattanten“ ins Feld geführten Zitate und Argumente nachzuweisen. Die Kontrolle ergibt, daß Habermas die Zitate „verkrümmt und gefälscht“ hat. Aufgrund gefälschter Zitate jemandem NS-Apologie zu attestieren - das geht Geiss gegen den Strich: So sei es also an Habermas, ein Gesprächsangebot durch die Zurücknahme seiner Vorwürfe gegenüber der „Viererbande“ zu unterbreiten. Hierzu biete sich das „Wehler-Verfahren“ an. Wehler habe in seinem „trotz allem überwiegend sachlichen Diskussionsbeitrag“ dem jeweils Angegriffenen „die Wege zur optimalen Verteidigung“ angegeben. Ihm falle somit bei der Vermittlung der streitenden Parteien eine „Schlüsselverantwortung“ zu.

In praxi meint das wohl: Der Historiker Wehler soll den für Geiss historisch inkompetenten Sozialphilosophen Habermas zum argumentativen Rückzug bewegen, um eine Wiederaufnahme des Dialogs zu ermöglichen. Denn: „Wer nicht reden will, dem bleibt nur das Schießen.“ Ein schweigender Habermas als Terrorist in spe? Eine interessante Vorstellung. Und: „Wer die für Wissenschaft wie Demokratie lebensnotwendige Diskussion verweigert und seine politischen Gegner durch Dämonisierung, hier als wirkliche oder tendenzielle Neonazis oder Faschisten, zu diskussionsunwürdigen Feinden macht, legt Hand an die Demokratie. Er muß wissen, was er tut.“

Geiss weiß das scheinbar nicht. Immerhin haben bereits Nolte und Hillgruber in ihren neuesten Buchpublikationen auf den „überwiegend sachlichen Diskussionsbeitrag“ Wehlers reagiert. Nolte in der zweiten Auflage von Das Vergehen der Vergangenheit: Wehlers Schmähschrift. Hillgruber in Die Zerstörung Europas: „Inzwischen hat sich Wehler durch seinen 'polemischen Essay‘ ... selbst so gründlich diskreditiert, daß sich ein weiteres Eingehen auf seine Ausfälle erübrigt.“

Abgesehen von diesen „weltfremden“ (Wehler über Geiss) Fehleinschätzungen der Diskussionsbereitschaft bundesdeutscher Historiker muß das „Geiss-Verfahren“ in mehrfacher Hinsicht kritisiert werden. Wäre er nicht zu abgeschmackt, müßte Geiss zunächst der Vorwurf gemacht werden, das historische Proseminar wohl häufiger geschwänzt zu haben, als es für seine textexegetischen Fähigkeiten gut war. Zweierlei gilt es doch festzuhalten: 1) Habermas hat keinen der erwähnten Historiker der bewußten NS-Apologie bezichtigt; 2) die Sprache der „Viererbande“ wie auch ihr Engagement in rechts bis weit rechts anzusiedelnden Ecken belegt einen zunehmend sorgloseren Umgang mit der nationalsozialistischen Geschichte.

Wie politisch naiv muß Geiss sein, um eine „bewußte Senkung der Schamschwelle“ gegenüber der NS-Vergangenheit (Wehler, taz vom 2.8.1988) in den letzten Jahren nicht zu registrieren. Ein Exponent der „Neuen Rechten“, der Bochumer Politologe Bernard Willms, irrt ja keineswegs, wenn er feststellt: „Im politisch-geistigen Spektrum verschiebt sich das, was man leichtfertig mit dem Wort als rechtsradikal abtun kann, eben nach rechts.“ Daß Nolte und Hillgruber neben Historikern wie Hellmut Diwald, aber auch Wolfgang Schuller und Kurt Kluxen, mittlerweile zu den Autoren der einst als rechtsextrem eingestuften Zeitschrift 'MUT‘ zählen, daß diese Zeitschrift vom Kanzler „mit viel Sympathie“ gelesen wird, daß der Kultusminister Baden -Württembergs, Gerhard Mayer-Vorfelder, in der diesjährigen September-Ausgabe der 'Nation Europa‘, die als rechtsextremes Organ nach wie vor im Verfassungsschutzbericht geführt wird, einen Beitrag veröffentlicht und daß dieser Tatbestand in den Medien kaum einer Notiz für wert befunden wurde, sind eindeutige Indizien für einen sich seit geraumer Zeit entwickelnden Rechtstrend „in unserer Republik“. Von einem plötzlichen Vulkanausbruch ohne Vorwarnung zu reden - auch wenn man das nur auf die Historikerzunft beziehen will - ist blanker Unsinn.

Die „Argumente“ der „Viererbande“, die den berechtigten Unmut von Habermas und anderen provoziert haben, hält Geiss zum großen Teil für diskussionswürdig. Die eingangs zitierte Passage stammt zum Beispiel aus Geiss‘ Plädoyer für das Ernstnehmen der Totalitarismustheorie, die unter anderem durch Noltes Bürgerkriegsszenario hierzulande einen neuen Aufschwung erlebt. Hier genügt Geiss allein der Hinweis auf vermeintliche gemeinsame Ursprünge von Nationalsozialismus und Kommunismus, die er in einem einst religiösen, dann aber - wie er es nennt - nach links und nach rechts säkularisierten Fundamentalismus begründet sieht.

Geiss gibt vor, den eigentlichen Intentionen der Streiter nachzuspüren. Das Fatale dabei ist, daß er die Äußerungen der „Viererbande“ so verkürzt und interpretiert, daß sie zustimmungsfähig werden. In seinen Rettungsversuchen berücksichtigt Geiss zudem kaum die Repliken der von Habermas angegriffenen Historiker. Tut er es ausnahmsweise, wird von einer „schwachen Verteidigung“ (bei Nolte) oder von „unglücklichen“ Formulierungen gesprochen: „Ihre Verteidigung wie die der vier Angegriffenen selbst fiel insgesamt unglücklich aus. Sie gingen zu wenig auf die wirklichen Sachfragen ein und argumentierten eher pauschal und emotional. Vor allem Hillgruber und Nolte, aber auch Hildebrand liefen ins offene Messer ihrer Kritiker, indem sie ihre buchstäblich fragwürdig gewordenen Positionen mit Argumenten zu retten suchten, die zumindest zum Teil die Vorwürfe ihrer Kritiker zu bestätigen schienen.“

Wenn Geiss nicht auf den Gedanken gekommen ist, daß die angegriffenen Positionen in der Tat die Positionen der Angegriffenen sein könnten, wieso hat es ihm keiner erzählt? Vom Lektorat des Verlages konnte er in diesem Zusammenhang keine Unterstützung erwarten: Dafür spricht alleine, daß das Buch bei Siedler erschienen ist - ein Verlag, der - wir erinnern uns - am Zustandekommen des „Historikerstreits“ durch die „unglückliche“ Edition des Hillgruber-Bändchens Zweierlei Untergang maßgeblichen Anteil hatte. Anstatt sich, wie es angeraten gewesen wäre, zu den gemachten Fehlern, über die es keinerlei Zweifel gibt, zu bekennen, hat sich Wolf Jobst Siedler anders entschieden: Mit dem Buch von Imanuel Geiss setzt er sich dem Verdacht aus, die Peinlichkeit zum Verlagsprogramm erhoben zu haben. Für die Deutschen in der Bundesrepublik bedeutet das, daß sie weiterhin auf den ersten Schritt zu ihrer Sanierung warten müssen.

Imanuel Geiss, Die Habermas-Kontroverse. Ein deutscher Streit; Siedler Verlag, Berlin 1988, 207 Seiten, 24,80 DM.