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Turnerinnen ohne Klassenunterschiede

■ Die Zwerginnenriege der UdSSR überzeugt beim Turnländerkampf gegen die Bundesrepublik / Lehrstück für bundesdeutsche Turnerinnen

Kiel (taz) - Ein 35-Kilogramm-Persönchen gewann die Einzelwertung des Turnländerkampfes BRD - UdSSR. Ein kleines Mädchen, das, glaubt man offiziellen Angaben, schon 14 Jahre alt sein soll und das von sechs weiteren Winzlingen, etwa gleicher Statur, begleitet wurde: Julia Kout, Europas Zweite der Juniorinnen am Boden, die eine Leiter bräuchte, um ihrem Trainer auf gleicher Höhe in die Augen sehen zu können.

1973 fand der letzte Länderkampf zwischen zwei A-Teams beider Länder statt. Diesmal genügte die „dritte Garnitur“ der UdSSR, um die bundesdeutsche Mannschaft auf knapp 13 Punkte Abstand zu halten. Die Olympiasiegerinnen Lachenova und Boginskaya mußten in die Wertung nicht eingreifen. Als Schauturnerinnen - sie waren nach Seoul nur zehn Tage zu Hause und befinden sich seitdem auf Tournee - gingen sie an nur zwei Geräten mit Sparprogramm an den Start und zogen dennoch stürmischen Applaus auf sich. War das Publikum beeinflußt von der politischen Sympathiewelle den „sich öffnenden“ Sowjets gegenüber? „Wir waren ganz überrascht, daß uns das Publikum so angefeuert hat“, wunderten sich jedenfalls die Turnerinnen.

Sie ließen sich auch nicht hängen, obwohl schon beim ersten Gerät die Überlegenheit zu sehen war, und sie turnten auch nicht auf Sicherheit. Sie riskierten alles. Daß dabei gleich mehrere sowjetische Turnerinnen vom Balken stürzten, unterstrich nur ihre Einsatzfreude. Svetlana Kozlova zeigte sogar einen Dreifachsalto vom Stufenbarren - den ersten einer Turnerin überhaupt.

Und selbst die Delegationsleitung übte sich in fast schon verwunderlicher Offenheit, drängte die Journalisten förmlich, mehr Fragen zu stellen, und Trainer Cherepov betonte, daß „die Presse sehr wichtig“ sei, weshalb er auch manches über die Turnerinnen sagte, was noch gar nicht gefragt war. Fast asiatische Höflichkeit und Zuvorkommenheit, die im Spitzensport nicht mehr selbstverständlich sind. Die Sowjets geben sich nicht genervt, nicht mal die außer Konkurrenz turnenden Stars Boginskaya und Lachenova. Ob sie nach der rund zehnwöchigen Tournee nicht des Turnens müde seien, ob sie nicht eine Pause benötigten, bevor nach ihrer Rückkehr am morgigen Dienstag in Minsk (Boginskaya) und Riga (Lachenova) das neue Pflichtprogramm auf sie warte? - „Wir freuen uns, endlich an die Arbeit gehen zu dürfen.“

Ahnte das Kieler Publikum wohlwollend diese Einstellung? Fehler und Unsicherheiten der beiden Olympiastars konnten den frenetischen Beifall nicht verhindern. Lachenova und Boginskaya schienen freilich ihren kleinen Kolleginnen ein bißchen die Schau zu stehlen. Aber spätestens zu Hause verschwinden dann wieder die „Klassenunterschiede“. „Das ist ein Topf, aus dem die nächsten Olympiasiegerinnen geholt werden“, versichern die sowjetischen Trainer. 30 Athletinnen, darunter die Siegerinnen von Seoul Shushunova, Boginskaya und Lachenova, sowie die sieben Winzlinge des Kieler Länderkampfes, alle haben die gleichen Rechte, keine genießt Vorteile, und alle müssen dieselben Qualifikationskriterien erfüllen. Der Unterschied zwischen einer Julia Kout und einer Svetlana Boginskaya liege einzig in der Reife der Ausführung, der Schwierigkeitsgrad sei derselbe.

Der Länderkampf war kein Kräftemessen, sondern „ein Lehrstück“, sagte Stefanie Tautz, Deutsche Meisterin und mit Rang Fünf in der Einzelwertung erneut Beste im Team. „Und dafür hat sich das allemal gelohnt“, fügte Bundesturnwart Zacharias, Initiator der Kieler Veranstaltung, die dadurch ermöglicht wurde, daß sämtliche Kosten inklusive eines vierstelligen Honorars vom Deutsche Turner-Bund getragen wurden, mit Blick auf die 1989 in Stuttgart stattfindenden Weltmeisterschaften hinzu.

T.S.

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