piwik no script img

Weltweite Luftbrücke nach Eriwan

■ Aber der Nationalitätenkonflikt geht weiter: Fünf Mitglieder des Karabach-Komitees wurden verhaftet

Ein Erdbeben, das 1948 in Turkmenistan über 100.000 Todesopfer forderte, blieb fünf Jahre lang geheim - bis nach Stalins Tod. Nach dem Erdbeben in Armenien ist dagegen Glasnost angesagt - soweit es nicht das Nationalitätenproblem betrifft. Willkommen ist jede Hilfe ob von den USA oder der armenischen Gemeinde in West-Berlin. Die bekam sogar ganz unbürokratisch ein Flugzeug der Aeroflot gestellt. - In der Nähe des Flughafens Eriwans gab es gestern ein zweites Unglück, als ein jugoslawisches Transportflugzeug mit einem Hubschrauber kollidierte und wahrscheinlich sieben Menschen starben. Am Sonntag bereits war eine sowjetische Hilfsmaschine mit 78 Menschen abgestürzt.

Zu einem Wettlauf mit dem Tod sind die Bemühungen der internationalen Hilfstrupps geworden, unter den Trümmern Leninakans Überlebende der Erdbebenkatastrophe zu finden. Entlang der Strecke vom Flughafen in die einst zweitgrößte Stadt Armeniens ist jedes zweite Haus zusammengestürzt wie ein Kartenhaus, kaum ein Gebäude blieb unbeschädigt. Auf den Trümmern hunderte von Menschen, die versuchen, weitere Verschüttete zu bergen.

Dort, wo ein zwölfstöckiges Gebäude auf eine Schuhfabrik gestürzt ist, sind Helfer des französischen Zivilschutzes an der Arbeit. Ihnen ist es gelungen, Sprechkontakt mit einer verschütteten Frau aufzunehmen. Susanne Sarkissian sei ihr Name. Sie sagt, sie sei unter den Trümmern mit drei Männern eingeschlossen. Man müsse schnell machen, um die Leute herauszuholen, meint ein französischer Helfer. In den vergangenen Nächten hat es dauernd gefroren und die Leute könnten das höchstens acht bis zehn Tage durchhalten. Die Franzosen können bei ihrer Arbeit einen jugoslawischen Kran verwenden, um die schweren Betonbrocken wegzuräumen. 500 Meter weiter sollen noch vier Erwachsene und drei Kinder lebendig unter den Trümmern begraben sein. Die Helfer arbeiten hier mit bloßer Hand. Sobald die Franzosen ihre Gruppe geborgen haben, soll der jugoslawische Kran hierher kommen.

Einen Kilometer weiter wurden am Sonntag vierzig Leichen aus den Trümmern eines Geschäftes für Kindermode geborgen. Noch immer sind einige der Körper bloß mit Tüchern bedeckt. Sichtlich verstörte Menschen und ein Dutzend Soldaten sind dabei, die Leichen in Holzsärge zu legen. Kurz wird das Tuch vom Gesicht der Toten weggezogen und ein Foto gemacht. Mehr Zeit bleibt kaum für die Identifizierung der Opfer, bevor sie anonym in Massengräbern beigesetzt werden. Es besteht kaum Hoffnung, daß die Leute jemals identifiziert werden, denn „manchmal sind ganze Familien darunter“, meint Wasgen Warsassaian, einer der Helfer. Er gehört zu den Leuten, die am Mittwoch, als das Erdbeben losbrach, gerade in das Geschäft gehen wollten. Seitdem hilft er dort wie Dutzende anderer auch. Zum Zeitpunkt der Katastrophe waren etwa 500 Menschen in dem Gebäude.

Auch hier fehlen Kranwagen und technische Ausrüstung, und auch hier arbeiten die Helfer mit bloßen Händen. In ganz Leninakan gibt es nur 150 Kräne. Dabei würde an jedem der eingestürzten Häuser einer gebraucht. Unter den Leuten, die bis zur Erschöpfung auf den Schutthaufen arbeiten, sind viele, die Angehörige suchen. Die Soldaten sind nur teilweise mit der Bergung Verschütteter betraut. Sie organisieren den Flughafen, wo Hilfgüter ein- und Verletzte ausgeflogen werden. Am Samstag wurden nach den Worten eines Militärarztes 280 und am Sonntag 590 Verletzte in andere Landesteile geschafft. Zahlreiche Militärs patrouillieren auch durch die Straßen der Stadt, um Plünderungen zu verhindern.

Unterdessen hat die Evakuierung von alten Leuten, Frauen und Kindern begonnen. Viele von ihnen wollen nicht weggehen und ihre toten oder vielleicht noch lebenden Verwandten unter den Trümmern zurücklassen. Am Samstag war Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow in Leninakan und hat schnelle Hilfe zugesagt. Die Stadt solle innerhalb von zwei Jahren wieder aufgebaut werden.

Sophie Shihab (afp), Leninakan

Drei Demonstrationen

Scharf wandte sich der Partei- und Staatschef gegen diejenigen, die angesichts der Katastrophe gegen die Evakuierung armenischer Kinder nach Rußland protestierten (siehe Interview). Und er polemisierte gegen diejenigen, die weiterhin den Anschluß von Berg-Karabach an Armenien forderten. „Wer sich jetzt mit diesen Themen beschäftigt, der hat keine Moral. Das sind Leute, die sich hinter den vermeintlichen Sorgen und Interessen des Volkes verstecken und eigentlich nur nach Macht gieren.“ Die sowjetische Führung werde sie mit politischen und administrativen MItteln bekämpfen.

Gesagt - getan. Am gleichen Tag wurden fünf Mitglieder des Karabach-Komitees in Eriwan verhaftet. In Eriwan fanden daraufhin am Sonntag drei Demonstrationen gegen die Verhaftungen statt, wie armenische Aktivisten berichten. Bei einer Kundgebung sei es zu Zusammenstößen mit Soldaten gekommen, und es habe auf beiden Seiten Verletzte gegeben.

Die Gesellschaft für bedohte Völker in Göttingen weist darauf hin, daß auch nach der Naturkatastrophe Armenier in Aserbeidjan weiterverfolgt würden. Nach Inforamtionen der Gesellschaft kam es einen Tag nach dem Beben in der Stadt Maghri zu neuen Ausschreitungen. Und in Baku seien neun armenische Häuser angezündet worden, „nachdem die zum Schutz der armensichen Minderheit bereitgestellten sowjetischen Soldaten zu Einsätzen ins Erdbebengebiet abberufen worden waren.“

er

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen