piwik no script img

"Fahren Sie Richtung...?"

■ Als kostenlos reisender Anhalter ständig erstklassiges Entertainment zu erwarten,ist mehr als vermessen. Erlebnisse auf bundesdeutschen Autobahnen vom tiefsten Südwesten bis nach Flensburg

Martin Jahrfeld „FAHREN SIE RICHTUNG...?“

Als kostenlos reisender Anhalter ständig erstklassiges Entertainment zu erwarten, ist mehr als vermessen. Erlebnisse auf bundesdeutschen Autobahnen vom tiefsten Südwesten bis nach Flensburg

Und nun stehe ich wieder an der Autobahn und halte den Daumen in den Wind...“ Mit dem Lied vom ungebundenen Tramper -Leben sang Udo Lindenberg in den frühen Siebzigern noch so manchem aus dem pubertären Herzen. Für die heutigen Kids macht das keinen Sinn mehr. Und daß der sich noch an die Straße stellt, glaubt auch niemand. „Die Zeit des Trampens ist vorbei, hat doch jeder sein eigenes Auto“, meint auch der junge Golf-Fahrer, der mich an der Auffahrt Rottweil aufliest und in Richtung Stuttgart fährt. Der Südwestfunk bestätigt das prompt. Zwischen Tracy Chapman und Communards verkündet eine sonore Stimme nahendes Unheil: „Staus und zähfließender Verkehr meldet die Polizei von folgenden...“

Montag, 8.15 Uhr auf der Bundesautobahn: Zurückgekehrt von der freien Fahrt ins Wochenende sind alle wieder auf den Beinen, begleitet von Sommerhits, morgenmunteren Moderatoren und endlosen Verkehrsdurchsagen. Hat eigentlich schon mal jemand einen rap daraus gemixt? So als akustisches Weckamin für Berufspendler? * * *

Reisegeschwindigkeiten: Die Welt in achtzig Tagen laut Jules Verne, Europa in zwei Wochen für japanische Touristen und Deutschland? Ach ja, Deutschland. Vom tiefen Südwesten bis nach Flensburg sind es mit dem Daumen vielleicht zwölf oder vierzehn Stunden. Ein Stau zum Reisebeginn ist kein gutes Omen, und deshalb verlasse ich den Golf an der letzten Raststätte vor Stuttgart. Schönbuch lautet ihr Name, doch der bezieht sich wohl mehr auf den Liebreiz des angrenzenden Naturparks als auf den Charme dieses Servicebetriebes der Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahnen m.b.h., kurz GfN genannt.

Bundesautobahnen und ihre Raststätten: Wer deutsche Industrie-Norm kennenlernen will, muß sie gesehen haben. Toilettenspülung per Lichtschranke, Stuhlgang für zwei Groschen, Seife und Handtuch für 50 Pfennige. Nebenan der Automatenkaffee (bitte nur einmal drücken) für nur 2,20 Mark. Für Passat-Kombi-Familien mit Baby-an-Bord-Aufkleber Wickelräume flächendeckend. An alles ist gedacht, und niemand bleibt allein. Auch in Schönbuch nicht. Die Selbstbedienungs-Cafeteria ist um diese Zeit bereits gefüllt mit noch montagsmüden Arbeitsmenschen. Heiteres Beruferaten und gleichzeitiges Abchecken potentieller Mitfahrgelegenheiten. Den LKW-Fahrer sieht man manchen Männern auf den ersten Blick an. In Jeans und karierten Hemden, das vom Duschen noch feuchte Haar ordentlich zurückgekämmt, schlurfen sie, Kulturbeutel unterm Arm, zu Kaffee und erster Zigarette. Dazu schreibt der offizielle Autobahnführer der Gesellschaft für Nebenbetriebe: „Als Kapitän der Landstraße erfreut sich der zünftige Fernfahrer eines besonderen Rufs, denn er gilt als ganzer Kerl und tatkräftiger Helfer in Notsituationen.“ Werbeagentur-Prosa, wie sie sein soll. Nicht ganz so vollmundig, aber ebenso unbekümmert lesen sich die Schlagzeilen an diesem Morgen: „Abtreibungsarzt - Frauen fordern Freispruch, Mann wollte ihn erschießen“. An den meisten Tischen ist 'Bild‘ um diese Zeit Pflichtprogramm. Zum Fernfahrer-Frühstück die gute Nachricht des Tages: „Bewiesen: Frauen können besser Lotto spielen“. Die Speisekarte des Restaurants bemüht sich um Ländle-typische Akzente: Nicht nur bundesdeutscher Fast-food -Standard wie Currywurst und halbe Hähnchen sind im Angebot, unter dem appetitlichen Oberbegriff Touristenteller wird auch derart Exotisches wie Maultaschen in der Brühe offeriert. Ich belasse es bei Salamibrötchen in Cellophanpapier, wohlwissend, daß die Gesellschaft für Nebenbetriebe an ihren 169 Raststätten noch manch kulinarische Fragwürdigkeit bereithält. * * *

„Fahren Sie vielleicht Richtung...?“ Doch der Herr mit Pepitahut ist ungehalten und fällt gleich ins Wort: „Tut mir leid, ich nehme grundsätzlich keine Anhalter mit.“ Die können einem das Reisen schwer machen, diese Grundsätzlichen. Also heute keine Pepitahüte mehr ansprechen und allenfalls mit dem Daumen anwinken. Tramperstolz. Wer sich nicht nur auf seinen Daumen verläßt, sondern den Mut hat, auf Raststätten Autofahrer anzusprechen, kann - Aug‘ in Aug‘ - noch ganz andere Rituale der Ablehnung kennenlernen. Da gibt es die Bemüht-Besorgten, die ja gerne würden, aber nicht können, weil ihr Auto voll ist. Auf dem Rücksitz liegen die Tennisschläger. Die Geschäftigen, die überhaupt keine Zeit haben, um dann ausführlich zu speisen. Die Erstaunt-Erschrockenen, die Unverständliches murmeln oder überhaupt kein Wort herausbringen. Längst nicht alle tragen Pepita-Hut, manche haben auch die menschlich-verbindenden Friedenstauben an der Heckscheibe. Autobahn ohne Auto, das ist Deutschland ganz unten, und spätestens nach einer Stunde hört sich „Fahren Sie Richtung Frankfurt?“ so an wie „Haste mal 'ne Mark?“

Hinweisschilder und Leitpfosten an der Ausfahrt laden zum Studium der Tramper-Lyrik ein. Dankbares Thema für Germanisten. „Paris - Heidelberg 18 Stunden Mike und Uli August '88“. Die Ärmsten. Reminiszenzen an vergangene Tramper-herrlichkeit klingen albern bis peinlich: „Warum trampen, wenn man mit LSD fliegen kann?“ und „On the road again“. Dabei ist Jack Kerouac doch schon lange tot. * * *

Im Innenraum des R4, den ich mit zwei Studenten bis Gießen teile, regiert noch der alternative Gemeinschaftsgeist. Von kaum 40 PS gezogen sind wir vereint im Spott auf Dauerlinksfahrer und Spoiler-Machos. Kaum daß sich der aussterbende Franzose mal auf die Überholspur wagt, schießen die Lust-Lemminge der mobilen Gesellschaft schon im Rückspiegel heran. Der Anthrazit-Porsche mit obligatorischer 911 auf dem Nummernschild signalisiert mit der Lichthupe Unzweideutiges. Auch der Blinker sollte nicht als freundliches Augenzwinkern mißverstanden werden. Dem Druck der Straße weichend, können wir gerade noch das Playboy -Häschen am Heck des apokalyptischen Reiters ausmachen. Die Bleifußindianer auf dem Kriegspfad. Wohl dem, der aus Mangel an Hubraum genügend ideologisches Rüstzeug mit sich führt, zur Stärkung des Autofahrer-Egos sind griffbereite Feindbilder in dieser Situation unerläßlich. Doch kein hemmungsloser Temporausch bleibt ohne Reue, kein demutsvolles Dahinkriechen ohne tiefe Genugtuung. Kurz vor dem Frankfurter Kreuz sind alle PS-Zahlen nur noch Schall und Abgas-Qualm, und auf vier Stau-Spuren erleben wir uns endlich als Gleiche unter Gleichen. Humoriges zur klassenlos gewordenen Autogesellschaft leistet die Landesregierung auf großen Brückentransparenten: „Unser Hessen - Zum Rasen viel zu schön“. Zu voll hätte das wohl heißen müssen. Von Schönheit ganz zu schweigen. Lufthansa und Air Canada dröhnen dem Staufeld entgegen, steuern dann aber doch zum angrenzenden Flughafen. „US forces only“ gebietet das Schild einer Schutzmacht. Viel Zeit für Stau-Gespräche: Ob es denn wahr sei, daß die Leitplanken der Frankfurter Autobahnen per Knopfdruck im Boden versenkt werden können, um im Kriegsfall für Militärfleugzeuge eine Landebasis zu schaffen? * * *

Nach zwei Stunden endlich in Gießen und als Entschädigung für die vorangegangenen Stau-Qualen diesmal ein schneller Auto- und Frontenwechsel. Der BMW-Fahrer, der auf meinen Daumen aufmerksam geworden ist, mag Anfang vierzig sein, leichter Bauchansatz zwar, aber sonst ganz Mann von Welt, Marke „alles schon mitgemacht“. Doch Biographisches will hier nicht lange recherchiert werden, er schöpft gleich aus dem Vollen: Werbeagentur in Frankfurt, vor zehn Jahren begann das große Geldverdienen, unterwegs zu einem Autohändler, ein Jaguar zwölf Zylinder wird gekauft. „Aber dagegen kannst du dieses Auto wegschmeißen“, versichert er. Kann man noch widersprechen? Haus auf Ibiza, ab und zu nach New York, Dependance in Berlin. In diesem Stil geht es weiter Richtung Ruhrgebiet. 1968 und die APO, ja natürlich. Da war er in Berlin mittendrin, und das habe alles seinen Sinn gehabt. In Höhe der Abfahrt Haiger-Burbach bringt der WDR Nachrichten mit neuen Erkenntnissen über das Robbensterben. Und einige Minuten später: „Von den Autobahnen und Fernstraßen unseres Sendegebietes liegen zur Zeit keine Meldungen über Verkehrsstörungen vor.“ Na prima. Der Werbemanager zeigt, wen er mit seinem Wegschmeiß-Auto noch alles überholen kann. Die Umwelt gehe den Bach runter, da brauche man sich überhaupt keine Illusionen mehr zu machen, niemand handelt, und es ist längst schon fünf nach zwölf. Seine Autos haben natürlich alle einen Katalysator, erklärt er mit der Unbekümmertheit desjenigen, der im abstürzenden Flugzeug die letzte Zigarette anzündet. Der Wald steht still und schweiget.

Hinter dem Kamener Kreuz, den einsetzenden Feierabend-Staus sind wir soeben davongefahren, erzählt er von seiner spät entdeckten Passion für das Golf-Spiel. Kein Alt-Herren-Sport für millionenschwere Privatiers sei das, sondern Balsam für Geist und Körper. Meine Bemerkung, daß er mit diesem Faible doch wohl endgültig zum Haß-Objekt für die Altlinken seiner Generation avanciert sei, nimmt er mit Genugtuung zur Kenntnis. * * *

An der Raststäte Wildeshausen vor Bremen wieder allein und Zeit für deja-vu. Heimkehrende Kaffeefahrten-Rentner entklettern ihrem Reisebus und schlendern grüppchenweise zu Sahnetorte und Seniorenteller. Auf dem Raststättenbegleitgrün ein Familien-Picknick im Stehen, Thermoskanne und Butterbrotpapier auf der Kühlerhaube. Deutschland privat. Der gutsortierte Tankstellenraum bietet Autospielzeug (in Kinderhöhe) und plastikverschweißte Hard -Core-Pornos (kindersicher). Wildeshausen grüßt den Rest der Welt. Herren in leitenden Positionen und zerknautschten Anzügen wirken geschäftig und eilen, das deutsche Nachrichtenmagazin in der Hand, ihrem Neuwagen, der Ausfahrt und wichtigen Terminen entgegen.

Mit dem einzigen Anhalter an diesem Ort orakel ich über das Ableben der Tramper-Zunft. Vorbei sind die Zeiten, als bundesdeutsche Jugend zu Dutzenden an der Straße stand, in Ellenbogenmanier die Konkurrenz vom Hals zu halten versuchte und auf jedes stoppende Auto zustürzte. Darin ist man sich einig. „Das kannst du heute allenfalls noch in Berlin erleben, wenn Szene-Kreuzberg im Sommer am Kontrollpunkt Drei Linden steht und auf einen Lift nach Wessi-Land wartet“, erzählt er von den letzten großen Tramper -Reservaten. Und warum das alles nicht mehr? Trendwende, Anspruchsdenken, volle Konten, billiges Öl, Mitfahrzentralen oder der vielbemühte Zeitgeist. Oder alles zusammen als synergetischer Effekt. Doch gemeinsame Zeit zur Ursachenforschung bleibt nicht mehr, ein LKW stoppt und fährt bis nach Flensburg. Beim Abschied versprechen wir, uns Gedanken zu machen. * * *

Über den vorbeirasenden PKWs thronend, will sich in der Fahrerkabine nur Rumpf-Konversation einstellen. Aus dem Cassettenrecorder knödeln Volksmusiker Süddeutsches. Aber als kostenlos reisender Anhalter ständig erstklassiges Entertainment erwarten zu wollen, ist mehr als vermessen. Nach Stunden des Schweigens zeigt sich im Scheinwerferlicht weiß auf blau das Abfahrtsschild Flensburg. You are leaving the Bundesautobahn. Der Kapitän der Landstraße hat noch zu arbeiten, und ich entsteige der Fahrerkanzel. Im Ohr die dümpelnde Ostsee, in der Nase den Geruch von Fisch und Meersalz, im Kopf die Bundesautobahn.

8.100 Kilometer gibt es in diesem Land, und auf jeder Tramper-Reise wird ein Teil zur Leinwand für eine immer andere, immer neue Großcollage. Anschnallen und abfahren, konversieren und schweigen für Stunden, Pepita-Hut und golfspielender Apo, Bleifuß und 2 CV, freie Fahrt und Rettet den Wald. Von allen Reiseveranstaltern unentdeckt, findet sich in Deutschland ein Raum, an dem jede Provinzialität aufgehoben scheint. Und das bei freiem Eintritt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen