: Die Liebe der Moderne
■ Der Autor von „Rot und Schwarz“ vergleicht hier das antike mit dem modernen Schönheitsideal
Henri Stendhal
Wer sich auf den Straßen von Athen leichtsinnig benommen hätte, gliche einem jungen Manne der vornehmen Welt, der sich eines Tages auf der Terrasse eines vornehmen Lokals am Arm einer Dirne sehen ließe; denn das Benehmen eines Leichtfußes ruft weder die Vorstellung von kampfbereiter Kraft noch den Begriff der im Rate erworbenen Weisheit hervor. Und so wäre Ausgelassenheit in Athen damals Wahnsinn gewesen, wie heute in Konstantinopel.
Ich komme zu dem Worte Anmut zurück. Nichts ist verschiedener als die antike Anmut oder die Kapitolinische Venus und die moderne Anmut oder die Magdalena von Correggio (auf dem göttlichen Hieronymus-Bild in Parma). Um zu begreifen, daß in Stockholm zehn Grad Kälte eine sehr milde Temperatur ist, müßte uns zunächst die gewöhnliche Rauheit des Klimas zum Gefühl werden. Ebenso muß man die Härte der antiken Sitten im Gefühl haben. Leider schlägt die Wissenschaft den Geist tot und lehrt uns nicht, zwischen den Zeilen zu lesen. Man hat in Frankreich keine Ahnung von der Antike, nicht mal vom antiken Recht.
Heutzutage dürfte die Anmut nicht mit einem gewissen Anschein von Kraft auftreten. Um natürlich zu sein, bedarf sie jenes Stichs ins Leichtsinnige, der so liebenswürdig ist. Jeder Schein von Schwäche aber vernichtet die Vorstellung von Kraft und damit die Schönheit.
Die antike Anmut war auch nur ein Niederlegen der Waffen. Der Ausdruck der Kraft verschwand für eine Weile, wenn auch nur halb verhüllt. Daher die einstudierten Bewegungen. Unerwartete Gebärden hätten sie zu sehr verdüstert. Ich glaube, die athenische Anmut war, vom lächerlichen abgesehen, etwa wie die Höflichkeit bei einem chinesischen Festmahl oder beim Diner eines europäischen Kongresses. Gewisse Bewegungen drückten aus, daß man seinem Nachbarn gefallen wolle. Wollte aber der Nachbar, dem zu Ehren man sich so benahm, die gleiche Absicht ausdrücken, so machte er genau dieselbe Gebärde. In Paris besteht der gute Ton darin, den Gedanken zu verhüllen, ihn aber durchblicken zu lassen. Reizvoll ist diese Höflichkeit nur, wenn sie so natürlich und zugleich so wenig nachgemacht erscheint, daß wir einen Moment wähnen können, der liebenswürdige Mensch meine es wirklich so, wie er sich benimmt (Fenelon)...
Brauche ich zu sagen, daß die derart auf die Spitze getriebene Grazie den Athener für immer erniedrigt hätte?
Die französische Revolution bildet einen Kommentar zu dem, was man hier errät. Man sehe das Gravitätische unserer heutigen Jugend (1811) und die Feierlichkeit, womit ein Junge von zwanzig Jahren bei Tortoni frühstückt. Der Grund ist einfach: in diesem Lokal verkehren Offiziere, die er nicht kennt und die auf sein hübsches Kabriolett neidisch sind, oder ein Minister, auf den er Rücksicht nimmt, weil er ihm eine Stelle als Auditor (im Staatsrat) verschaffen könnte.
Alles, was man über die Griechen gedacht hat, sinkt zusammen, wenn die Sitten der Völker mitsamt den sie bedingenden Ursachen sich ändern. (...)
Wie können aber Kraft, Vernunft und hohe Weisheit Liebe erwecken? Zieht uns im Museum die reizende Hermione in Guido Renis Entführung der Helena nicht mehr an als die imposantesten antiken Köpfe? Wer hat sich je in den Kopf der kapitolinischen Venus verliebt? Respekt und Liebe gehen beim modernen Menschen nicht Hand in Hand. Der Grieche aber achtet seinen Freund.
Die edlen Eigenschaften, die uns bezaubern, wie Zartgefühl, das Fehlen berechnender Eitelkeit, das Sichhingeben an die Regungen des Herzens, die Fähigkeit, in einem Gedanken ganz aufzugehen und sein Glück darin zu finden, die Charakterstärke in der Liebe und die rührende Schwäche, wenn die Frau nichts als den schwachen Halt ihres Verstandes hat, kurz, die himmlischen Reize von Leib und Geist - alles dies vermissen wir bei den antiken Frauenstatuen.
Das liegt daran, daß die Liebe der Moderne fast stets außerhalb der Ehe gesucht wird; bei den Griechen war dies nie der Fall. Der moderne Gatte sucht mehr Sicherheit und weniger Freuden. Im Altertum war die öffentliche Meinung mit den Ehemännern; heute ist sie mit den Liebenden. Die antike Republik, das heißt die Sicherheit, das Glück und Leben des Bürgers, sanktionierte die ehelichen Tugenden; bei uns haben sie höchstens Anspruch auf Stillschweigen; und es ist allgemein anerkannt, daß sie nur einen alten Junggesellen oder einen kalten, von Ehrgeiz verzehrten Jüngling zur Liebe entflammen.
Ich glaube, auch der eifrigste Altertumsforscher kann nicht abstreiten, daß die Liebe, wie wir sie empfinden, die Liebe von Fräulein von Lespinasse zum Grafen G(uibert), die Liebe der portugiesischen Nonne zum Marquis von Chamilly und so viele andere Liebschaften, die noch zärtlicher und zum mindesten glücklicher waren, da sie ja unbekannt geblieben sind, eine durchaus moderne Erscheinung ist. Sie ist eine der eigenartigsten und unverhofftesten Früchte der sozialen Vervollkommnung.
Die moderne Liebe, dies schöne Gewächs mit seinen reizenden, weithin leuchtenden Früchten, die wie die des Manzarillenbaumes oft das tödlichste Gift bergen, gedeiht und erreicht seinen höchsten Wuchs in den vergoldeten Gemächern der Herrscherpaläste. Völliger Müßiggang, Kenntnis des Menschenherzens, grausame Vereinsamung inmitten einer Menschenwüste, Eigenliebe, die ihr Glück oder ihre Verzweiflung in Geringfügigkeiten findet, lassen sie zu ihrem vollen Glanze erblühen.
Dies Gefühl war dem Griechen fremd; und ohne völligen Müßiggang keine Liebe. Die Liebe herrscht in Italien, aber nicht in den Vereinigten Staaten von Amerika noch in London. Auch die Liebe Abälards, des größten Mannes seiner Zeit, der bei dem Kanonikus Fulbert wohnte und heimlich für seine Schülerin Heloise glühte, die für seinen Ruhm schwärmte, wäre im Altertum unmöglich gewesen. Plura erant oscula quam sententiae, saepius ad sinus quam ad libros deducebantur manus. (Küsse waren häufiger als Lehren. Die Hände griffen öfter nach dem Busen als nach den Büchern.)
Ich rede hier vom Menschenherzen nur insofern, als es durch die Formen einer Statue verkörpert werden kann. Sie sind entweder ein Versprechen holder Augenblicke oder gar nichts. Gewiß sprechen sie zum Instinkt, aber der Instinkt ist empfänglicher für die Malerei.
Erinnern wir uns an die Tugenden, die der Bildhauer in den Wäldern Thessaliens darstellte. Es waren: Gerechtigkeit, Weisheit und Güte, alle drei in ihrer höchsten Verkörperung. Der Mensch wünschte diese Tugenden bei seinen Göttern und verlangte sie von seinem Freunde. Aber diese großen Eigenschaften sind in Frankreich nicht recht am Platze. Nicht als ob ich den Menschenfeind spielen wollte, aber in einer Stadt, wo die Polizei so auf ihrem Posten ist wie in Paris, ist die Kraft nicht angebracht... Selbst in England nimmt sie ab. Der Grund ist der, daß die große Kraft einen großen Nachteil mit sich bringt: Der 'starke Mann‘ ist gewöhnlich recht dumm. Die Nerven eines Athleten sind stumpf. Jagen, trinken und schlafen - das ist sein Dasein.
Niemand wünschte sich einen Milo von Kroton zum Freunde. Auch ein Mann mit der Charakterstärke und der gespannten Aufmerksamkeit der Pallas von Belletri wäre nicht nach unserem Geschmack. Solch ein Kopf auf lebendigen Schultern flößte uns Furcht ein.
Die antiken Tugenden würden unseren Freund entweder aus Frankreich vertreiben oder ihn zum Einsiedler machen, zum verdrießlichen Menschenfeind, der in der Gesellschaft sehr wenig vorteilhaft wäre; denn die Lächerlichkeit von Molieres Alceste liegt im Grunde darin, daß er sich gegen den Einfluß der Regierungsform seines Landes auflehnt. Er ist wie ein Mensch, der dem Weltmeer eine Gartenmauer als Wall entgegensetzt. Philinte hätte ihm den Rat geben sollen, nach England zu reisen.
Die ideale Schönheit der Moderne setzt sich aus folgenden Vorzügen zusammen: ein lebhafter Geist; viel Anmut in den Zügen; glänzende Blicke, aber nicht von der Glut der Leidenschaft, sondern vom Feuer des Esprits glänzend. - Das Auge ist der Spiegel der Seele; und gerade dies kann die Skulptur nicht nachbilden. Die modernen Augen müßten also sehr groß ausfallen.
Ferner: große Lustigkeit, erregbares Feingefühl, schlanker Wuchs und vor allem die bewegliche Art der Jugend.
Bei unsren Sitten tritt an Stelle der Kraft der Geist in Verbindung mit mäßiger Körperkraft. Selbst unsere Kraft ist, dank der Art unserer Waffen, nicht mehr rein körperlich: sie ist der Mut.
Der Geist ist stark, weil er Schußwaffen abfeuert. Zum Zweikampf kommt es selten; einen Horatius Cocles gibt es nicht mehr. Die große Kraft ist für die Schlacht kaum mehr von Vorteil; und für den Einzelkampf kommt es mehr auf Geschick in der Degenführung und im Pistolenschießen an. War Beaumarchais‘ Geist im Jahre 1763 nicht eine große Kraft? Und er griff nicht zur Waffe.
Gesundes Aussehen versteht sich auch bei der modernen Schönheit von selbst. Doch bei dem allgemeinen Niedergang der Körperkraft erscheint die allzu frische Farbe der Gesundheit als gewöhnlich. Etwas Blässe wirkt viel vornehmer. Sie deutet auf vornehme Lebensweise hin, auf die Kraft, die wir lieben.
Aus: Stendhal, Geschichte der Malerei in Italien, übersetzt von Friedrich von Oppeln-Bronikowski, Propyläen Verlag o.J., mit einem Vorwort von Heinrich Wölfflin.
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