: Elvis lebt oder
■ Die Wiederkehr des Verschollenen als Präsidentschaftskandidat. Südkalifornische Notizen
Hans Christoph Buch
1Seit Philipp Marlowe nicht mehr für Ordnung sorgt, ist auf den Straßen von Los Angeles die Hölle los: Es vergeht kein Tag, an dem nicht mehrere Morde registriert werden; die meisten Toten sind Teenager, junge Schwarze oder Chicanos, die dem Bandenkrieg rivalisierender Streetgangs zum Opfer fallen. Der Straßenkampf um Marktanteile im Drogenhandel wird, wie einst in Chicago, mit Messern und Pistolen ausgetragen. Jahr für Jahr sterben in den USA doppelt so viele Menschen an Verbrechen wie in der Bundesrepublik an Verkehrsunfällen; laut FBI-Statistik passiert alle fünfundzwanzig Minuten ein Mord, alle acht Minuten wird eine Frau vergewaltigt; und jedes Jahr verschwinden ebenso viele Menschen wie der Vietnamkrieg Tote gefordert hat - unter ihnen eine wachsende Zahl von Kindern, nach denen mit Postwurfsendungen und auf Milchtüten gefahndet wird. Die Verschwundenen, von denen viele als Bettler und Obdachlose in den Zentren der Großstädte vegetieren, sind das Ergebnis von Reagans neokonservativer Sozialpolitik ebenso wie von pseudodemokratischen Reformen der siebziger Jahre, als viele Insassen von Altersheimen und psychiatrischen Anstalten einfach auf die Straße gesetzt wurden - eine „kostendämpfende“ Maßnahme, die die Verelendung breiter Bevölkerungsschichten nach sich gezogen hat.
Aber es gibt noch eine andere Kategorie von Desaparecidos, deren spurloses Verschwinden weniger Mitleid als Respekt, Bewunderung und sogar Neid hervorruft: den Hijacker D.B. Cooper zum Beispiel, der vor einigen Jahren mit dem Fallschirm und einer Viertelmillion Dollar am Leib über dem Nordwesten der USA aus einem Flugzeug sprang und nie wieder gesehen wurde, obwohl seitdem nicht nur Beamte des FBI, sondern Tausende von Schatzsuchern die Wälder von Oregon durchkämmt haben; vielleicht ist einer von ihnen inzwischen fündig geworden und hat auf einer Waldlichtung ein paar zerknüllte Dollarscheine entdeckt.
Ein ähnlich spektakulärer Nachruhm war dem höheren Angestellten Carl Edward Greer beschieden, der seit seinem rätselhaften Abgang vor sieben Jahren in Kalifornien zur Kultfigur avanciert ist. Der junge Elektronik-Ingenieur hatte im Rüstungskonzern Hughes Aircraft (dessen Gründer, Howard Hughes, eines Tages ebenfalls spurlos verschwand) eine Blitzkarriere gemacht und schien, als Millionärssohn, musterhafter Ehemann und Vater zweier Kinder, auch privat vom Glück begünstigt. Ed Greer, wie ihn seine Freunde nannten, wurde am 9.September 1981 in Los Angeles zuletzt gesehen; sein Wagen, mit Kleidern und Kreditkarten auf dem Rücksitz, wurde am Strand von Venice verlassen aufgefunden. Man nahm an, daß er beim Baden im Meer ertrunken sei oder in einem Anfall von Depression Selbstmord begangen habe, aber ein Mitarbeiter der Firma Hughes gab später zu Protokoll, den Vermißten um Mitternacht in einem Zubringerbus zum Flughafen gesehen zu haben.
Anstelle des für höhere Angestellte obligatorischen Anzugs habe er Blue Jeans getragen, ein Detail, das zu abenteuerlichen Spekulationen Anlaß gab, obwohl auf Greers Bankkonto keine verdächtige Bewegung festzustellen war. Seitdem gibt es kein Lebenszeichen von Ed Greer, aber die Legenden, die sich um sein Verschwinden ranken, sind nicht mehr totzukriegen. In Kollegenkreisen geht man davon aus, daß er sich in ein Land der Dritten Welt abgesetzt hat, wahrscheinlich auf eine Insel im Südpazifik, um hier den Traum eines höheren Angestellten vom Ausstieg ins alternative Leben zu verwirklichen, der, wie jede Utopie, mit sexueller Freiheit verknüpft ist. In den Büros der Star -Wars-Ingenieure hängen Fotomontagen von Ed Greer in Badehose mit Surfbrett, umgeben von nackten Hawaii-Mädchen, unter einer Sprechblase mit dem Motto: „Never become too good at something you hate. They'll make you do it the rest of your life.“ (Werde nie zu gut bei etwas, das du haßt, sonst lassen sie dich dasselbe für den Rest deines Lebens tun.)
Greers Frau Kit hat Jahre gebraucht, um über den Schock hinwegzukommen. Sie sagt, ihre zwölfjährige Ehe mit Ed sei harmonisch gewesen, aber vielleicht ein bißchen langweilig. Inzwischen hat sie zum zweiten Mal geheiratet und arbeitet als Eheberaterin. Der unter Hughes-Angestellten in Mode gekommene Kult um ihren verschwundenen Mann ist für sie ein Ärgernis; die meisten dieser Leute hätten Ed überhaupt nicht gekannt und seien erst nach seinem Weggang in die Firma eingetreten; die am siebten Jahrestag seines Verschwindens von ehemaligen Kollegen veranstaltete Party, auf der Ed mit dem Slogan: „Put down your beer and vote for Ed Greer“ zum Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen gekürt wurde, sei eine Geschmacklosigkeit gewesen und habe das Gedächtnis ihres Mannes verunglimpft, da dieser sich nie für Politik interessiert und auch kein Bier getrunken habe. Gegen die von einem Hughes-Ingenieur gedichtete Ballade von Eddie Greer hat Kit jedoch nichts einzuwenden:
„Listen my children and you shall hear / Of the sudden flight of Eddie Greer. / Some men gain fame by feats of skill, / Some are elected, some steal, some kill. / Others write great lines of wit: / What Eddie did of note was split.“
(Liebe Leute, kommt alle her / und hört die Geschichte von Eddie Greer. / Der eine wird berühmt durch eigenes Geschick / der andere durch Raub, Mord oder Politik. / Wieder ein anderer schreibt Bücher voller Geist: / Eddie aber ist einfach verreist.)
2Kafkas Amerika-Roman sollte ursprünglich Der Verschollene heißen; sein Held, der 16jährige Karl Rossmann, wurde im „Naturtheater von Oklahoma“ zuletzt gesehen - danach verliert sich seine Spur im fernen Westen der USA. Franz Kafka hat damit ein Thema angeschlagen, das den Mythos der Neuen Welt, als Hölle und Paradies zugleich, von Anfang an begleitet. Die europamüden Auswanderer, von den Pilgervätern bis zu den Aussteigern von heute, werden zu Verschollenen, die in der Fremde verschütt gehen, um dann als reiche Onkel nach Hause zurückzukehren (oder auch nicht): ein Wunschdenken, das das Amerikabild vieler Europäer bis heute geprägt hat. Aber die „Furien des Verschwindens“ plagen auch die Bewohner der Neuen Welt. Der Wunsch, tabula rasa zu machen, alles hinzuschmeißen und irgendwo anders ganz von vorn anzufangen, scheint hier, aufgrund der äußeren Mobilität und des verinnerlichten Erfolgszwangs der amerikanischen Gesellschaft, immer unabweisbarer zu werden. Taschenbücher mit Titeln wie How to Create a New Identity (Wie man sich eine neue Identität verschafft), How to Disappear Completely and Never Be Found (Wie man spurlos verschwindet und nie wiedergefunden wird), How to Get Lost and Start all Over Again (Wie man verlorengeht und wieder von vorne anfängt) finden reißenden Absatz (Werbeslogan: „essential reading for anyone interested in getting permanently lost“ - Pflichtlektüre für jeden, der für immer untertauchen will).
Hinter solchen Slogans verbirgt sich eine kaum verhüllte Todessehnsucht, genauer: der Wunsch, aus der eigenen, langweilig gewordenen Existenz auszubrechen und mit einer aufregenden neuen Identität wiedergeboren zu werden. Die Zeit wird zum Paternoster, in den man nach Belieben ein- und aussteigen kann: Millionen von Amerikanern sind davon überzeugt, als ägyptische Pharaonen, mittelalterliche Mönche etc. schon einmal gelebt oder als Ufo-Passagiere fremde Planeten besucht zu haben. Die Allmacht des Todes wird so, wenn schon nicht in Wirklichkeit, dann wenigstens in der Phantasie überwunden. Wir alle haben nur dieses eine Leben, und wir wissen leider nur zu gut, wie es enden wird; was danach kommt, wissen wir nicht. Vielleicht ist das der Grund, warum das Schicksal eines Verschollenen wie Edward Greer so hartnäckig die Phantasie ihrer Zeitgenossen beschäftigt.
Amerika, „God's Own Country“, ist in Wahrheit ein heidnisches Land. Wie die alten Griechen und Römer verehren die modernen Amerikaner ihre Götter in menschlicher Gestalt; ihre Tempel sind die Filmpaläste, ihre Hausaltäre die heimischen Fernsehgeräte und ihre heiligen Stätten sind die Boulevards von Beverly Hills, auf denen die Unsterblichen, wie Buddha auf Ceylon, ihre Fußabdrücke hinterlassen haben. Die Stars sind nicht nur Verkörperungen von ewiger Jugend, Schönheit und Sex Appeal, das heißt von jenem Glück, das gewöhnlichen Sterblichen vorenthalten bleibt, sie müssen auch, wie alle Erlöser, die Leiden der Menschen stellvertretend auf sich nehmen.
Anders als im Film hat der amerikanische Traum in Wirklichkeit kein Happy-End: seine Protagonisten enden durch Mord oder Selbstmord, Unfälle oder Verbrechen, von Drogen zerfressen oder von Kugeln zerfetzt: James Dean und Marilyn Monroe, Robert Kennedy und Martin Luther King, Elvis Presley und John Lennon (der einzige Nichtamerikaner in Hollywoods Hall of Fame) sind so gestorben, und selbst wenn ein Filmstar wie Rock Hudson eines „natürlichen“ Todes stirbt, bleibt der Verdacht, daß er einem Verbrechen oder einer Verschwörung zum Opfer gefallen ist - falls er überhaupt gestorben ist. „Elvis lebt“ meldete der 'National Enquirer‘ in riesigen schwarzen Lettern auf Seite eins, und es vergeht kaum eine Woche, ohne daß der Reporter eines Yellow-Press -Magazins den totgeglaubten Elvis in einem Hotel in Las Vegas oder an einer Tankstelle in Tennessee ausfindig macht: „Elvis is alive and well, having a good time with his fans in Missoula, Montana“ (Elvis erfreut sich bester Gesundheit und feiert mit seinen Fans in Missoula, Montana).
In dem Nostalgiefilm Heartbreak Hotel, der derzeit in der amerikanischen Hitliste auf den vorderen Plätzen rangiert (und, wie viele der neueren Kassenschlager aus Hollywood, ein Kinopublikum von acht bis achtzig anzusprechen versucht), kehrt Elvis aus dem Jenseits auf die Erde zurück. Der Film, heißt es im Vorspann, ist ein modernes Märchen aus der Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat: der König des Rock'n'Roll steigt von seinem Thron und mischt sich unerkannt unter sein Volk; innerhalb von 24 Stunden bringt Elvis eine zerrüttete amerikanische Familie wieder in Ordnung, macht eine alleinerziehende Mutter glücklich und bringt ihrem revoltierenden Sohn den Respekt vor der amerikanischen Fahne bei, bevor er sich von seinen Fans verabschiedet und an Bord seines Privatjets am nächtlichen Sternenhimmel entschwindet. Es ist die alte Geschichte vom „rebel without a cause“, der als verlorener Sohn nach Hause zurückkehrt, um die vakant gewordene Stelle des Vaters einzunehmen. Der domestizierte Rebell hat endlich seinen Platz im bürgerlichen Wohnzimmer gefunden.
Der einzige Schönheitsfehler in den Augen der Fans ist, daß die Hauptrolle in dieser Hommage an Elvis nicht von dem echten, sondern von einem geklonten Elvis gespielt wird, der mit dem Original nur die blauen Wildlederschuhe gemein hat.
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