: Die Alternative Liste zwischen Sekt und Selters
■ Am heutigen Samstag entscheidet die Mitgliedervollversammlung (MVV) der AL über ihre Marschroute für die Verhandlungen / Festlegung auf eine Kolation? Trotz rot-grüner Harmonie verfolgen die Strömungen unterschiedliche Strategien / Der GA will auf Grundlage des Wahlprogramms verhandeln
Fast zwei Wochen lang hat sich die AL in einem rauschähnlichen Zustand bewegt, dem sich kaum jemand entziehen konnte. Erst so langsam dringen Stimmen durch, die sagen, daß Wünschen alleine noch nie geholfen hat. Und so langsam werden jenseits dieser rot-grün Harmonie auch wieder Personen und Gruppen mit unterschiedlichen Strategien sichtbar. Daß über das Ja zu rot-grün auf der heutigen Mitgliederversammlung eigentlich gar nicht mehr abgestimmt werden müßte, steht außer Frage. Doch dann wird es erst richtig spannend: Offen ist, ob die MVV ihre Verhandlungskommission auf das Wörtchen „Koalition“ festlegen wird. Das wollen die „Grünen Panther“ und die Realos erreichen. Unklar ist, ob die Verhandlungskommission mit einem inhaltlichen Forderungskatalog auf den Weg geschickt wird.
Seit jenem sensationellen Wahlabend haben sich die politischen Konstellationen innerhalb der AL ziemlich verschoben: Gerade innerhalb der linken AL werden Differenzen deutlich, die bislang eher unter der Decke bleiben konnten. Nicht erst seit dem Wahltag sind jene tonangebend, die bundesweit unter dem Banner „Undogmatische Linke“ sammeln: Sie haben das Sagen im GA, im Delegiertenrat, in der Verhandlungskommission und aller Voraussicht nach auch in der neuen Fraktion. Nachdem in Hamburg und Hessen die strategische Optionen von Realos und Fundis gescheitert waren, haben die „Undogmatischen“ innerhalb der AL versucht, rot-grün jenseits des Politikverständis der Hamburger und Hessen Fundis als Perspektive für die AL zu entwickeln. Gerade sie haben seit gut einem Jahr auf die Aussage gedrängt, die AL sei für eine Zusammenarbeit mit der SPD, „bis hin zur Koalition“. Dafür haben die „Undogmatischen“ auf dem bundesweiten Linken -Treffen am vergangenen Wochenende kräftig Dresche bekommen: Ohne Not seien damit linke Positionen preisgegeben worden, schimpfte Jutta Ditfurth, und anderen geriet die AL -Koalitonsaussage zum Beispiel für die Rechtsentwicklung der Grünen. Doch die „Undogmatischen“ halten auch für die MVV an ihrer bisherigen Haltung fest: Die Form - Koalition oder Tolerierung - soll erst nach den Verhandlungen entschieden werden. Und es soll keinen Tolerierungskatalog mit „Spiegelstrichen“ geben, sondern den Auftrag für die Verhandlungskommission, „auf Grundlage des Programms“ das Maximale herauszuholen (Birgit Arkenstette). Darauf hatte sich der GA verständigt, der Delegiertenrat schloß sich dem an.
Die links-fundamentalistische Position ist seit dem Wahlabend fast völlig weggebrochen; ja sie wurde von der Euphorie förmlich überrollt. Eine Gruppe um Siggi Fries, Ellen Olms, Dagmar Birkelbach und Stefan Noe will jetzt Flagge zeigen, und die Verhandlungskommission auf inhaltliche Schwerpunkte festlegen. Genannt werden u.a. ein „genereller Abschiebestopp“ und die „sofortige Verkürzung der Arbeitszeit im öffentlichen Dienst auf 35 Stunden bei gleichzeitiger positiver Quotierung für Frauen“. Dafür will sich die Gruppe auf der MVV stark machen. Auf dem Delegiertenrat wurde dieser Vorschlag allerdings mit großer Mehrheit abgelehnt, weil viele das mißtrauisch als „Fortsetzung alter Fehler auf neuem Papier“ beäugten. Ein Delegierter: Er sehe das als Versuch, „mit Minimalforderungen, die letzlich wie Soll-Bruchstellen darstellen, wie in Hamburg etwas zu torpedieren“. Dagmar Birkelbach wehrt sich gegen diesen Vorwurf: Das Mißtrauen sei unbegründet, auch sie halte das Konzept, „Sollbruchstellen von vornherein festzulegen, inzwischen für eine zu statische Wahrnehmung“. Ihnen sei bisher jedoch „zu wenig Härte in der Verhandlungsführung drin“: „Ich wünsche mir von der MVV, daß sie der Verhandlungskommission inhaltliche Schwerpunkte auf den Weg gibt und sagt: Verhandelt hier ziemlich hart“.
Ein anderer Teil des linksradikalen Flügels der AL ist dagegen so schnell ins Lager der Koalitionsbefürworter gewechselt, daß sich selbst die Realos nur noch verwundert die Augen reiben. Spöttisch nennen sie einige „unsere linksradikalen Realos“ oder „fundamentalisitische Koalitionäre“: Sie versprechen sich eigentlich wenig von Reformpolitik qua Ministersessel - sind aber wegen der Republikaner dennoch für rot-grün. Und weil sie glauben, daß mit AL-Senatoren, die auch eine Verwaltung unter sich haben, mehr herausspringt als mit SPD-Senatoren, favorisieren sie eine Koaliton. Eine Position, die etwa bei Benny Guttmann durchschimmerte, als er die Entscheidung seiner linken Bezirksgruppe vortrug: Niemand war gegen rot-grün, die überwiegende Mehrheit für „Sekt“ statt „Selters“ - und mit „Sekt“ meinte er natürlich die Koaliton. Auch Dirk Schneider gehört zu dem linksradikalen Spektrum, das heute mit leuchtenden Augen über die Koalition erzählt. Und er hofft, daß auch die Sozialdemokraten für einige grüne Ideen zu gewinnen sein müßten, wenn diese als Utopie und mit einem gewissen Pathos vorgetragen werden. Dirk Schneider gehört auch zu jenen, die alle fragen, ob sie Senator In oder Staatssekretär In werden möchten, ob „Cola“ Kuhn die Schulverwaltung, Martin Jänicke die Umwelt und Wolfgang Wieland den Innensenat übernehmen sollen. Anders als die meisten sagt Schneider, die AL müsse sich dieser „Sysiphosarbeit“ stellen: Die EbLT auflösen, die Kasernierung abschaffen und Schritte für eine Ausbildung in Richtung „volkstümliche Polizei“ einschlagen. Vielleicht, so meint er, wäre auch eine Art Bündnis mit dem autonomen Spektrum möglich, „daß die den rot-grünen Senat nicht direkt ankacheln“.
Vor allem Harald Wolf und Birgit Arkenstette haben immer wieder versucht, diese Euphorie etwas zu dämpfen, nach dem Motto: Wer die Schwierigkeiten nicht von Anfang an mitdenkt, hat den ersten Schritt zur Niederlage bereits getan. „Nach dem zweiten Vorgespräch mit der SPD am Dienstag haben alle gestöhnt, wie ernüchternd das war“, erzählen Birgit Arkenstette und Harald Wolf. „Wir waren eher erleichtert, weil man in der AL endlich wieder über die Realität reden kann, ohne schief angesehen zu werden“. Bereits der AL -Vorstoß zur Berlinförderung etwa sei mit SPD kaum zu realisieren. Wolf sieht die Chance, die SPD in den Bereichen zu Zugeständnissen an die AL zu bewegen, in denen eine gesellschaftliche Akzeptanz für weitreichendere Schritte bereits vorhanden ist: In der Frauenpolitik, bei Umwelt- und Mieten-, sowie in der Ausländerpolitik.
Mit dieser Einschätzung ist ein vorsichtiges Plädoyer für die Option der Tolerierung verbunden: Der Sog für die Legitimierung der Regierungspolitik und den damit verbundenen Sachzwängen sei bei einer Koaltion unumgänglich. Bei einer Tolerierung sei dieser Sog so nicht gegeben: Wenn der atomare Forschungsreaktor im Hahn-Meitner-Institut nicht sofort abgeschaltet werden könnte - auch da sind viele skeptisch, weil auch dieser Schritt „das Vertrauen in die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Berlin“ (Momper) infragestellen würde - müsse man dies nicht öffentlich rechtfertigen: „Ich kann sagen: Ich nehme das in Kauf, weil es in anderen Bereichen Fortschritte gibt, die es sonst nicht gäbe“. Die Einwirkungsmöglichkeiten auf die Senatspolitik seien so wesentlich größer - „auch weil Regierungsloyalität nicht zwangsläufig in die AL hinein transportiert würde“. Ein anderes Argument: Eine Koaliton beinhalte viel stärker die Dynamik, daß jede Differenz auf beiden Seiten zu einem Prestigepunkt eskaliere und berge somit eher die Gefahr des Bruchs. Ein etwas lockerers Verhältnis könne sogar stabiler sein. Und mit Blick auf die SPD fügt Harald Wolf hinzu, daß der rechte Flügel mit einer Tolerierung womöglich besser leben könne.
Die „Grünen Panther“ wollen auf der heutigen MVV in jedem Falle darauf drängen, „daß eine Festlegung in Richtung Koaliton passiert“, wie Günter Seiler erläutert. Wie sie genau vorgehen wollen, haben sie noch nicht entschieden. Von allen Tolerierungsmodellen grenzt Günter Seiler sich und die anderen „Panther“ jedoch deutlich ab: „Wir beurteilen die Lernfähigkeit der SPD etwas offener als die Undogmatischen“, erklärt Günter Seiler eine Differenz. So ist es folgerichtig, daß auch die Panther bereits über Senatoren und Staatssekretäre nachdenken. Fest steht, daß die „Panther“ Reiner Geulen gerne als Umweltsenator hätten. Beginn der MVV: 14 Uhr, Hasenheide. (Siehe Bericht Letzte Seite)
Ursel Sieber
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