: „Dann heißt es: Ich oder er!“
■ Interview mit dem ehemaligen Grenzsoldaten Jens Bernhardt über den Schießbefehl, die Mauer und die Angst des Wachmanns vor dem Flüchtling / Bernhardt flüchtete selbst 1987 in Uniform nach West-Berlin
taz: Herr Bernhardt, Sie waren Grenzsoldat der DDR in Ost -Berlin und sind im Juli 1987 in Uniform nach West-Berlin geflüchtet. Honecker hat gestern erneut bestritten, daß es einen Schießbefehl gibt. Wie ist der Schußwaffengebrauch an der Grenze geregelt?
Bernhardt: Den Schießbefehl gibt es. Er steht im Grenzgesetz der DDR. Zunächst gibt es den Paragraphen 26, da heißt es sinngemäß, daß dem Soldaten alle Mittel der Gewalt freistehen, um eine Flucht zu verhindern. „Der Grenzverletzer wird gestellt“, heißt das im Jargon.
Welche Abstufungen gibt es außerdem?
Wenn es mit den Mitteln des Paragraphen 26 nicht gelingt, den Flüchtling zu stellen, muß von der Schußwaffe Gebrauch gemacht werden.
Heißt das: Derjenige, der in einer solchen Situation nicht abdrückt, bekommt Ärger?
Genau das. Es gibt genaue Vorschriften, die befolgt werden müssen. Erst ein Zuruf: „Halt! Stehenbleiben, oder ich schieße!“ Wenn er dann nicht stehenbleibt, kommt ein Warnschuß in den Sandboden. Und dann muß gezielt geschossen werden - auf die Füße und Beine. Allerdings: Wenn ich den nur noch durch Schießen stoppen kann, ist der soweit weg, daß ich gar nicht mehr genau treffe.
Wie würden Sie die Grenzsoldaten charakterisieren? Machen die das freiwillig; wie sind Sie dazu gekommen?
Ich bin bei meinem Grundwehrdienst in die Grenztruppen einberufen worden. Erst eine sechsmonatige Ausbildung, dann wurde ich an die Mauer gestellt, ob ich das wollte oder nicht. Freiwillige gibt's da nicht; wer macht sowas schon freiwillig. Die wenigen, die vom System noch überzeugt sind und da ihren Dienst tun, die braucht man eben für die Führungsposten, Offiziere und so weiter. Aber das sind wirklich Ausnahmen. Der normale Soldat, der da im Wachturm steht oder Patrouille läuft, der macht das nicht freiwillig. Jeder Soldat, der an der Mauer Dienst tut, hat Angst, daß einer an der Stelle flüchten will, wo er Dienst macht. Denn wenn man dann nicht reagiert, möglicherweise also schießt, geht's ab. Wenn die einem nachweisen, daß man versagt hat, landet man im Gefängnis.
Haben Sie so eine Auseinandersetzung erlebt?
Wir hatten im Juni 1987 mal einen Grenzdurchbruch nach Spandau. Da hatten es zwei geschafft, ohne daß es einer gemerkt hat. Da hat man Schuldige gesucht und wollte zwei Soldaten verurteilen. Bei uns in der Truppe war deshalb eine sehr schlechte Stimmung, wir waren wütend. Die Vorgesetzten haben das registriert und die Sache dann zur Bewährung ausgesetzt. Man muß die Truppe ja bei Laune halten. Wenn die ins Gefängnis gekommen wären, dann hätten wir Putz gemacht, das wußten die. Wir waren immerhin 400 Mann.
Sie beschreiben Ihre ehemaligen Kollegen als regelrechten Unsicherheitsfaktor für die Armee.
Ja, deshalb ist der Druck von oben ja so stark. Die Entscheidungen bei Flucht, die trifft man ja auch nicht alleine, sondern mit seinem Streifenpartner. Da wird aber täglich gewechselt. Den kenn‘ ich doch gar nicht, ich weiß doch gar nicht, wie der denkt. Ich muß doch davon ausgehen, daß der mich anzeigt, wenn ich nichts mache. Und dann geht das in Bruchteilen von Sekunden vor sich. Da muß man dann handeln.
Eine Vertrauensatmosphäre zwischen den Soldaten kann sich also gar nicht entwickeln?
Nee, eigentlich nicht. Das ist ganz selten. Die achten ja nicht nur auf sogenannte Grenzverletzer, sondern passen ja auch gegenseitig auf sich auf. Wenn einer von beiden Soldaten abhauen will, muß der andere schießen.
Einer der Flüchtlinge, auf die Anfang Februar in Treptow geschossen wurde, hat nach Augenzeugenberichten 20 Minuten am Boden gelegen, ohne daß erste Hilfe geleistet wurde. Wieso wird in solche einem Fall nicht gleich reagiert?
Erste Hilfe muß natürlich geleistet werden. In dieser Grenze gibt es aber überall Markierungen, die anzeigen, wie weit ich mich als Soldat bewegen darf. Wenn ich die ohne Befehl übertrete, gilt das als Flucht. Wenn da also zwei hinrennen würden, ohne den Befehl abzuwarten, würde auch auf die geschossen werden. Damit die sich nicht gegenseitig umbringen, müssen die erst die Order vom Führungsoffizier abwarten, daß nicht mehr geschossen werden soll. Dann können die erst vorgehen und helfen.
Sie haben die Grenzanlagen ja gekannt, über die sie geflüchtet sind. Wie groß ist denn die Chance durchzukommen, wenn man sie nicht kennt?
Gering. Das sind Ausnahmen. Wir hatten mehrere Versuche, wo ich war, die alle gescheitert sind. Die meisten werden schon vor der Grenze, im Sperrgebiet festgenommen. Das kriegt man im Westen gar nicht mit. Von weitem sieht das ja auch harmlos aus.
Wie werden denn die Grenzsoldaten auf ihren Dienst vorbereitet?
Man hat auf Übungsplätzen in Kasernen die Grenze aufgebaut. Alle Anlagen, mit Graben, Hund, Stacheldraht, allem drum und dran. Und dann wird das eben trainiert. Man ist entweder im Turm oder auf Streife. Dann gibt's genaue Spielregeln, wer als erster den Turm verläßt, wer für welche Seite verantwortlich ist. Dann wird das Einfangen trainiert. An Puppen wird dann auch mal trainiert, wie man mit einem Bajonett am besten zusticht, wenn einer gerade über die Mauer klettert. Hinter der Übungsmauer hat einer die Puppe mit einem Seil hochgezogen. Wir mußten das Bajonett aufpflanzen und hochstechen, um den irgendwie aufzuhalten. Ich hab‘ das einmal trainiert. Aber man kriegt die Waffe, das Messer gar nicht hoch. Obwohl das nur 'ne Puppe ist. Das ist so furchtbar, so grausam, daß man die Arme gar nicht hochbekommt.
Gibt es denn neben diesem praktischen Training auch eine psychologische Schulung, um mit solchen Situationen fertigzuwerden? Wie wird darüber geredet? Wie werden die Flüchtlinge überhaupt genannt?
Das sind „Grenzverletzer“, „Flüchtlinge“ gibt's ja keine (lacht).
Aber wie fängt die Armeeführung denn diese emotionalen Probleme der Grenzsoldaten auf?
Da wird gesagt, daß das Kriminelle sind. Es wird behauptet, die würden flüchten, weil sie in der DDR was ausgefressen hätten, also Beschädigung von Volkseigentum oder Diebstahl und so weiter. Oder es wird gesagt, daß das innere Feinde wären, die was verraten wollten. Immer dasselbe.
Was hat Sie eigentlich bewogen, damals abzuhauen?
Die Angst vor dem Moment, wo ich vielleicht handeln muß. Die Wahrscheinlichkeit, daß einer mal an dem Punkt flüchten will, wo ich gerade stehe, war ja relativ groß. Und dann kann ich ja nicht sagen: Hau ab, ich will dir nichts tun, komm‘ morgen wieder. Dann heißt es: Ich oder er.
Interview: CC Malzahn
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