: Vom Nachttisch geräumt: ZENSUR
Manchmal höre ich, ich würde zu abwegige Sachen vom Nachttisch räumen. Kein Mensch interessiere sich für diese Kuriosa. Ich fürchte, Kursachsen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist wieder so ein Fall. Für mich freilich ist Agatha Kobuchs Studie über verbotene Bücher in Leipzig und Umgebung von höchstem Reiz. Da sind die kirchen- und religionskritischen Schriften eines Adam Bernd, dessen „Eigene Lebens-Beschreibung“, eine der anschaulichsten Autobiographien des deutschen 18. Jahrhunderts, im modernen Antiquariat immer mal wieder zu finden ist; da sind Spinozisten und Wolffianer, mystische Aufklärer und an englischen Empiristen geschulte Freidenker. Agatha Kobuch erzählt von Johann Lorenz Schmidts „Wertheimer-Bibel“, eine Übersetzung, „die eine Umsetzung biblischer Bilder in Begriffe sowie der biblischen Worte in zeitgemäße, verständliche Ausdrucksweisen vorsah“. Die knappen Lebensgeschichten erzählen von Entlassungen, Gefängnis und Armut. Kritik riskierte noch Kopf und Kragen. Die der Religion nicht weniger als die der Zustände in Staat und Gesellschaft. Agatha Kobuchs „Zensur und Aufklärung in Kursachsen“ macht neugierig auf ganz und gar vergessene Autoren und Bücher. Es sind ja die zahlreichen Details, die Appetit machen. Wenn sie über Johann Konrad Dippel schreibt: ein „radikaler Pietist mit freigeistig aufklärerischen Zügen“, dann weckt die Verbindung so widersprüchlicher Eigenschaften höchstes Interesse und ich notiere mir, daß Johann Friedrich Bachstrohm sein Leben beschrieben und seine Kritik an der Erbsünde verteidigt hat. Natürlich kann ich mich einem zusätzlichen Reiz nicht entziehen. Das Buch spricht von Zensur und Zensurbehörden in Leipzig. Da liegen Parallelen auf der Hand. Daß Samuel Christian Hollmann 1724 sich durch einen Revers verpflichten mußte, seine Arbeit „De Harmonia rerum omnium in Mundo praestabilita“ nicht drucken zu lassen, erinnert mich an einen Leipziger der 70er Jahre dieses Jahrhunderts, dem Ähnliches passierte: Erich Loest, der in seinem großartigen Bericht „Vom Entstehen und Sterben eines Romans in der DDR“, betitelt „Der vierte Zensor“, einen Filter bietet, durch den ich Agatha Kobuchs materialreiche - 40 Seiten Quellen - und anregende Studie lese. Ein nicht ganz reines Vergnügen also.
Agatha Kobuch, Zensur und Aufklärung in Kursachsen Ideologische Strömungen und politische Meinungen zur Zeit der sächsisch-polnischen Union (1697-1763), Hermann Böhlaus Nachfolger (Weimar) 298 Seiten, 35 Mark
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