Auge um Auge für jeden toten Palästinenser

Ausgangssperre im Gaza-Streifen seit Sonntag wieder aufgehoben / PLO-Chef Arafat fordert weiterhin unbewaffneten Widerstand  ■  Aus Tel Aviv Amos Wollin

Die seit Montag letzter Woche geltende Ausgangssperre im von Israel besetzten Gaza-Streifen ist am Sonntag morgen aufgehoben worden. Nur im Viertel Shaboura des Flüchtlingslagers Raffah blieb das Ausgehverbot weiterhin in Kraft. Ein Generalstreik, zu dem die „Vereinigte Leitung“ in ihrer 39. Mitteilung aufgerufen hatte, lähmte am Sonntag die von Israel besetzten Gebiete. Es waren nur einige wenige palästinensische Arbeiter, die sich zu ihren Arbeitsplätzen nach Israel begaben, nachdem am Samstag bei Auseinandersetzungen in Raffah und Djeballiah sechs Palästinenser getötet und weitere 13 schwer verletzt worden waren.

Die israelische Version des Geschehens vom Wochenende lautete, daß Hunderte von Palästinensern das Ausgehverbot mißachtet und die israelischen Truppen bedroht hätten. Diese seien gezwungen gewesen, auf die Aufständischen zu schießen, um die Ordnung wiederherzustellen. Palästinensischen Quellen zufolge protestierten die Einwohner von Raffah gegen Hausarrest und die Unterbrechung von Lebensmittellieferungen. Lastwagen aus dem Gaza-Streifen fuhren am Sonntag in israelisches Gebiet, um Lebensmittel zu holen. Die Bewohner des Gaza-Streifens leiden offenbar zunehmend an Lebensmittelmangel.

Erstmals seit Beginn des Palästinenseraufstands vor 17 Monaten hat am Wochenende die Führung der Intifada zu Vergeltungsmorden an Israelis aufgerufen. Das neueste Flugblatt der „Vereinigten Nationalen Führung“ des Palästinenseraufstands, das am Samstag in den besetzten Gebieten zirkulierte, forderte die Bevölkerung auf, für jeden „Märtyrer“ einen israelischen Siedler oder Soldaten umzubringen. „Wir befinden uns am Scheideweg“, analysierte Madi Abdel Hadi, ein bekannter palästinensischer politischer Kommentator, die Schießerei vom Wochenende. „Entweder die Intifada setzt sich auf demselben Niveau fort wie bisher, mit der Möglichkeit einer politischen Lösung, oder aber das ganze eskaliert.“ In ihrem 40. Bulletin lehnte die Führung des Aufstands erneut den „Schamir-Plan“ ab und rechtfertigte darüber hinaus die Exekutionen von Palästinensern, die als Kollaborateure von Angehörigen des eigenen Volkes umgebracht worden seien (siehe Kasten). Es handele sich, so heißt es in dem Flugblatt weiter, um „Werkzeuge der Unterdrückung, mit denen die Besatzer unser Volk morden und terrorisieren“. Der Chef der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), Yassir Arafat, forderte in Bagdad, die Angehörigen seines Volkes in den besetzten Gebieten sollten bei ihrem Aufstand auch weiterhin auf den Gebrauch von Schußwaffen verzichten.