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Wer fürchtet sich vor Anke H.?

Ein Kind und sein Medium / Eine Reportage aus Anlaß des Bremer Symposiums „Kinder und Medien“ In jedem drtten Kinderzimmer steht ein Zweitfernseher / Wie kucken Kinder eigentlich fern?  ■  Bitte Foto:

Mädchen mit

Augen zu

Anke steht auf Trickfilm

Bis Dezember '87 war Anke noch ein terrestrisches Kind. Aber daran erinnert sie sich ungern. Es war die Zeit der Langeweile am Nachmittag, der Sehnsucht nach einem Kaninchen für Gespräche zu zweit, der empfundenen Abwesenheit der arbeitenden Eltern, der Stille auf der eingepferchten Straße zwischen zwei Gröpelinger Reihenhausreihen, weil die besten Freundinnen sich anderen zuwenden: „Wenn man dann so rumsitzt, denkt man über die ollen Ziegen nach“, resümiert Anke, 11 Jahre.

Seit Dezember '87 ist Anke verkabelt und hat treuere Freunde. „Manche sagen ja, Fernsehn macht dumm. Aber ich hab da schon Sachen rausgehört, die hat sonst niemand verstanden“, zum Beispiel das wunderbare Wort Acetonitrile, eine Flüssigkeit, übersetzt Anke gerne.

Wir versinken zu viert in der Couchgarnitur im kleinen, verbarrikadierten Wohnzimmer: Benny, der Bernhadinerschäferhundmischling'Anke, ihre Mutter und ich. Mattschwarz glänzt im Regenbogenbeige der Fernseher und schweigt wie ein Orakel. Benny ist ein Wunschhund. Seit einem halben Jahr soll er Anke, das Einzelkind, vom Schirm weg Gassiziehen. „Neulich“, erzählt Anke stolz, „hat er jedes Stück Papier zerrissen. Überall Schnipsel. Bloß die Fernsehzeitung hat er heile gelassen!“

Sie dreht die wuchtige Fernbedienung um, und liest vor:“ Erstes, zweites, drittes - klar! - , SAt-1, RTL-plus, DDR1, DDR2, Tele 5, 1-plus, 3-sat, West 3, Bayern 3, PRO 7, TV 5, Sky-und Super Channel“. „Changel“, sagt Anke, die mit den beiden englischen Kanälen ihr Englisch verbessert. Eine Qual der Wahl kennt sie nicht. „Ich beschränke mich auf vier: Sky, Tele 5, Sat-1, RTL-plus“. ARD und ZDF sitzen bei Anke in der letzten Reihe:„Forsthaus Falkenau! Uuh Gottchen!! Da spielen welche so rum, mal der mit der und die mit dem, da blickt man gar nicht mehr durch.“

Anke steht auf Trickfilme, die sind süß: „Bei wahrheitsgemäßen wird meistens einer erschossen, bei Trickfilmen bloß gejagt“.

Wenn die Mutter gegen 19 Uhr von ihrer Kasse im Supermarkt kommt, (der Vater, Elektriker, macht lange Überstunden), hat Anke schon zwischen zwei und fünf Stunden ferngekuckt.„Ich komm‘ von der Schule nach Hause. Und weil ich das so herrlich gewohnt bin, in der Klasse, das Gequassel, mach‘ ich mir gleich leise den Fernseher an“. Richtig hinsehen tut sie nicht. Aber diese komische Stille - „Oouuhh, das ist schlecht! Da sitz‘ ich, kuck auf meine Hausaufgaben, und da fällt mir einfach nix ein.“ Währedn Anke ihr von der Mutter vorgekochtes Mittagessen aufwärmt, kommt im Hintergrund die Telebörse auf SAT-1. Das sind Börsennachrichten. In der SChule nehmen sie gerade Gold durch, das paßt gut.

Um 14 Uhr laufen bei den Privaten die ersten Trickfilme an. Auf Tele5 täglich „Bim Bam Bino“, aus SAT-1 täglich wechselnde Trickserien mit Titeln wie „Pixi im Wolkenkuckucksheim“, „KImba der weiße Löwe“, oder „The Real Ghostbusters“. Mehrere Serienfreunde begleiten Anke bis in den Abend: Bonanza, Lassie, Sherlock Holmes, Glücksrad, Max Headroom (Sat-1), Die

Spezialisten und Knigt Rider (RTL-plus). Zwischendurch schaltet Anke immer mal wieder auf die Musikclips um. Mittwoch und Freitag geht Anke in's Judo und zieht auf dem Rückweg Rollschuhe an, damit sie ihre absolute Lieblingssendung nicht verpaßt: „Cartoons“, eine tägliche Trickfilmsammlung von 20-20.45 Uhr auf Tele 5. „Cartoons“ ist ihr Sandmännchen. Beim Stichwort Sandmännchen windet sich Anke aus dramaturgischen Gründen im Sessel. Die Frage nach den öffentlich-rechtlichen Kindersendungen treibt sie in die Höhe. Der Hund knurrt leise. Wie Papageien sprechen lernen, interessiert Anke nicht.

Anke ist das KInd, vor dem uns die Medienpädagogen schon immer gewarnt haben. Noch kuckt sie nicht aus viereckigen Augen. Müssen wir uns in einer nahen Zukunft vor ihr grausen? Feld-Fall-und Langzeitforschungen Forschungen glauben: Ja. Und attestieren verkabelten Kindern Faulheit, Fantasiearmut, Verrohung. Kaum ein Fachhaar, das nicht zu Berge steht, denkt der Fachkopf darunter an das symbiotische Verhältnis von Kabelkind und Fabel-TV. Der Bildschirm als Nachfolger der bösen Märcheltern, der die Kinder in den reizüberfluteten Wald schickt, wo die Serienhexe lauert und man vor lauter Action die Welt nicht mehr sieht? Vom Zurückfinden ganz zu schweigen.

Die Privaten kümmert das wenig. Während sie ihre Kinderprogramme immer weiter ausbauen, verschlafen die öffentlich-rechtlichen Anstalten die Entwicklung weitgehend. Immer noch produzieren dort zu viele Onkels und Tanten Kinderfilme nach Lehr-Lerntheorien und erinnern sich schaudernd vor Rührung an die eigene Kindheit. Höchstens wenn's gar nichts anderes gibt, schaltet Anke in's erste oder zweite Programm um. „Die drücken sich immer so komisch aus“.

Und:„Kindhaftes ist so langweilig. Ich seh‘ lieber was für Erwachsene“. Außerdem „wissen die jetzt schon, in Sat-1 und und RTL-plus, daß da abends auch Kinder zukucken. Da bringen sie Filme, wo Mutti auch ja sagt“. Die handeln davon, daß das „Gute gewinnt“, sagt Anke, und nicht wie bei ARD und ZDF, „wo man nie genau weiß, wer gewinnt“.

Mutti kuckt auch gerne Sendungen, wo jemand gewinnt, zum Beispiel „Der Preis ist heiß“ auf RTL oder „Glücksrad“ auf SAT 1.

Was ist für Anke das wichtigste beim Fernsehen?

„Wo ich lachen und mich bewegen kann. Neulich gab's im Ersten 'Vom Winde verweht‘, wo man denn da so sitzt und da so hinkuckt und nichts mehr versteht, wenn man sich bewegt! „ Ihre Mutter stöhnt. Anke arbeite bei jedem Film mit. Im Schlaf käme nichts nach, sie tobe alles gleich aus. In ihrem Zimmer hopse sie manchmal wie ein Rumpelstilzchen und brülle klasseee, oouuh und wau, daß die Wände wackelten. Anke hat, als sie mal gaaanz lieb war, einen neuen Zweitfernseher bekommen. Groß und bunt. Leider fehlen zwei Programme.

Soll Fernsehen etwas mit ihrer Wirklichkeit zu tun haben? Sie ist empört. Was? Mit ihrer Wirklichkeit? Sie macht vor, wie das aussähe:„Tamtam - das Kind geht zur Schule tamtam - das Kind kommt wieder. Oder: Die Erwachsenen gehen zur Arbeit - (lange Kunstpause) - die Erwachsenen kommen wieder - (ganz lange Kunstpause) - die Erwachsenen kucken fern - (zwei lange Kunstpausen) - die Erwachsenen geh'n in's Bett!“ Sprechen die Eltern Fernsehverbote aus? Bedeutsame Blicke von Mutter zu Tochter. „Ich kann Mutti so herzzerreißend ankucken!“ Überhaupt sei Fernsehen für Kinder das allerwichtigste und ein Verbot grauenvoll. Eine früh an's Rauchen geratene Freundin

konnte durch ein Fernsehverbot vom Nikotin abgebracht werden. In Ankes Klasse (Orientierungsstufe) kuckt übrigens niemand Horrorvideos („Alle ganz friedlich“).

Aber in ihrer alten Klasse an der Grundschule, da gab es einen Jungen, der sie einmal fast erwürgt hat. „Ganz lange durfte der fernsehen, das ganze Programm rauf und runter, bis spät in die Nacht.“ Anke hat deshalb Judo gelernt. Einen Angriff mit dem Schirm konnte sie abwehren. MIt einem Fußfeger: „Da zieht man dem die Füße weg.“ Jetzt im Sommer spielen die Kinder draußen. Freibad kommt immer noch vor Fernsehen. Gegen 21 Uhr geht Anke in's Bett. Hat sie Alpträume nach manchen Filmen? „Nee, nur von meiner einen Lehrerin!“ Claudia Kohlhas

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