WEI JINGSHENG WAR SEINER ZEIT VORAUS

■ Interview mit der Regisseurin Hsien-Chen Chang zu ihrer Inszenierung

taz: Wie hast du das Massaker der chinesischen Regierung auf dem Tiananmen empfunden?

Hsien-Chen Chang: Als Taiwan-Chinesin habe ich ja unter dieser Regierung gelebt, ich kann nur reagieren wie jeder Mensch, entsetzt, sprachlos, wütend und traurig - tausend Gefühle.

Eure szenische Lesung erfuhr in den letzten Wochen eine frappierende Aktualität, und dennoch scheint es, als hätten die Ereignisse das Stück überholt.

Dieser Prozeß hat vor zehn Jahren stattgefunden. Die Forderungen der Studenten und Journalisten sind jedoch noch immer die gleichen. Auf seiten der Regierung hat sich nichts geändert. Aber heute gibt es mehr Wei Jingshengs. Er war seiner Zeit voraus. Heute wird man wegen solcher Reden nicht mehr verurteilt, aber damals schon. Mich hat die Aktualität seiner Forderung sehr beeindruckt. Auch zwischen 1978 und 1979 sprach man von einem Pekinger Frühling, Untergrundblätter schossen wie Pilze aus dem Boden. Im Oktober wurde Wei Jingsheng wegen „konterrevolutionärer Aktivitäten“ zu 15 Jahren Haft verurteilt. Ende 1979 wurden die Wandzeitungen an der „Mauer der Demokratie“ verboten. Auch am Sonntag hieß es in den DDR-Nachrichten, der konterrevolutionäre Aufstand wurde auf dem Tiananmen niedergeschlagen.

Wann bist du auf die Idee gekommen, das Stück zu inszenieren?

Ich habe die offenen Briefe an die höchste politische Führung gelesen, in denen Intellektuelle und Künstler Anfang des Jahres die Freilassung aller politischen Gefangenen forderten, die gewaltfrei für ihre Ziele eintraten. Da dachte ich sofort an den Text von Mnouchkine. Das Material ist sehr trocken, man müßte noch viel Arbeit investieren, um es als Theaterstück auf die Bühne zu bringen, deshalb entschied ich mich für die szenische Lesung.

Was bezweckst du mit der Videoinstallation?

Der ganze Prozeß wirkt sehr mechanisch, war schon im voraus inszeniert. Um diesen Mechanismus zu zeigen, bei dem menschlicher Kontakt keine Rolle spielt, es nie zu einem Kontakt zwischen Richter und Angeklagten kommt, bedienten wir uns der Videokamera. Aber auch künstlerische Überlegungen spielten eine Rolle.

Wie habt ihr in der kurzen Zeit das Stück erarbeitet?

Wir hatten nur sechs Wochen Zeit. In der Hauptsache haben wir inhaltlich geprobt, wir mußten auch viele Kürzungen vornehmen. Aber wir haben uns auch Aufzeichnungen von Schauprozessen angesehen, um Mimik und Szenario zu studieren. Im Hebbeltheater können wir den großen Bühnenraum ausnutzen, dafür haben wir eine andere Inszenierung erarbeitet, die Bezug zu den aktuellen Ereignissen herstellt.

Wie bist du zur Theaterarbeit gekommen?

Vor sechs Jahren habe ich in Berlin mit dem Studium angefangen. Seither habe ich eigene Stücke im Off-Theater gemacht, selber Stücke geschrieben, inszeniert und auch gespielt, und dann habe ich zwei Jahre mit der Theatergruppe „Hundert-Fleck“ gearbeitet. Die Sache mit Wei Jingsheng ist für mich eigentlich keine richtige Theaterproduktion, sondern hat eher den Charakter einer Aktion. Ich habe mich um alles gekümmert, die Inszenierung, das Programm und die Öffentlichkeitsarbeit. Lediglich von amnesty international habe ich Unterstützung bekommen.

Interview: Simone Lenz