piwik no script img

Unpersonen und Vaterlandsverräter

■ Theodor Gladkow, der Chronist der sowjetischen Partisanenkämpfe, hat auch die deutschen Deserteure wiederentdeckt

Michael Schneider

Wenn er in die DDR oder in die Bundesrepublik reist und die ersten deutschen Sätze hört, fährt ihm noch immer der Schreck in die Glieder. Denn mit der deutschen Sprache assoziiert er unwillkürlich seine Kindheit in Tula. Die Stadt war 1941/42 von den Deutschen besetzt und das Haus seiner Familie von deutschen Panzern in Brand geschossen worden. Gerade noch rechtzeitig wurde er mit einem Pionierlager evakuiert. Auch der Evakuierungszug, in dem Hunderte von Kindern saßen, wurde von deutschen Bombern angegriffen. Damals war der untersetzte Mann mit den (noch immer) rotblonden Haaren und den hellblauen Augen, der zu Radys besten Freunden gehört und dem ich in einer engen, aber gemütlichen Moskauer Wohnstube bei Wodka, Kognak und Eierlikör gegenübersitze, zehn Jahre alt.

In West-Berlin hat Gladkow einen Freund, der heute bei den Grünen arbeitet. Er weiß, daß dessen Vater im Krieg gefallen ist. Einmal, während eines Spaziergangs durch Kreuzberg, erzählte ihm der Freund die Geschichte seines Vaters, der in Norwegen bei einem englischen Bombenangriff ums Leben gekommen ist. Gladkow sagte zu dem Freund: „Verzeih‘ mir, es klingt vielleicht zynisch. Aber ich bin sehr erleichtert, daß dein Vater in Norwegen und nicht in Rußland gefallen ist. Wäre er in Rußland gefallen, wäre es schlimmer für mich!“

Natürlich wisse er, fügt Gladkow beinahe entschuldigend hinzu, daß die Kinder für die Untaten ihrer Väter keine Verantwortung trügen und daß die junge Generation in der Bundesrepublik ganz anders sei als die ihrer Väter. Aber dieses Wissen und diese neue Erfahrung, die er im Umgang mit den jüngeren Deutschen gewonnen habe, könne die Macht der alten Bilder und Kindheitserinnerungen nicht ganz entkräften.

Russenbilder aus

der Nachkriegszeit

Ich erzähle ihm, mit welchem Russenbild ich aufgewachsen bin. Ich hörte schon als Fünfjähriger Greuelgeschichten, die die Grausamkeit der Grimmschen Märchen bei weitem übertrafen. Daß die Russen deutsche Bauern an Scheunentüren nagelten, deutschen Müttern den Bauch aufschlitzten und deutsche Kinder mit der Zunge an Tische und Stühle festnagelten - solche und ähnliche Schauergeschichten verband ich als Kind ganz organisch mit der Vorstellung der „Hölle“, an die meine mich erziehende Großmutter auch glaubte und die nach meiner Vorstellung ausschließlich mit deutschen Sündern und russischen Teufeln bevölkert sein mußte. Wenn ich mit den Nachbarkindern auf der Straße „Krieg“ spielte und wir mit unseren Holzgewehren und Steinschleudern aufeinander losgingen, dann war der Verlierer, der, „welcher totgeschossen werden mußte, immer der 'Russe'“. So gingen wir Kinder als Sieger aus einem gespielten Krieg hervor, den unsere Väter zum Glück im Ernst verloren hatten. Wir spielten „Stalingrad“ mit verteilten Rollen, aber so, daß „der Iwan“ sich am Ende immer ergeben mußte. Wahrscheinlich lag es an dieser spielerischen Umkehrung der wirklichen Geschichte, daß dieses Spiel auch die grimmige Sympathie der Erwachsenen fand. So war ich schon mit fünf Jahren, noch bevor ich irgendetwas anderes war, ein perfekter Antikommunist und Russenhasser!

Gladkow lacht und gießt mein Wodka-Glas wieder voll. Er lacht so sehr, daß er die Hälfte daneben schüttet. „Und jetzt bist du nach Moskau gekommen, um sogar freiwillig in der Russenhölle zu braten!... Ich glaube, wären wir beide uns als Kinder begegnet, wir wären gute Spielkameraden gewesen... Aber ergeben hätte ich mich dir nicht!“

Deutsche Wiedergutmachungsarbeit

Vor einigen Jahren war Gladkow, zusammen mit einer sowjetischen Hilfsorganisation, nach Äthiopien geflogen. Das Hilfskorps hatte die Aufgabe, vor Hunger sterbende Menschen aus Äthiopien herauszufliegen. In einem Flüchtlingslager, das in einem völlig ausgetrockneten Steppengebiet lag, traf er eine kleine bundesdeutsche Gruppe, bestehend aus einer Ärztin, einer Krankenschwester und einem Mechaniker. Die drei hatten in der Bundesrepublik aus eigener Initiative Geld gesammelt und davon eine fahrbare Ambulanz, Medikamente und Lebensmittel gekauft. Die Ärztin, eine Frau von etwa vierzig Jahren, war am Rande ihrer Kräfte. Sie arbeitete, wie die anderen auch, ohne Bezahlung. Warum sie hierhergekommen sei, fragte Gladkow die Ärztin. Sie antwortete, sie sei nach dem Krieg geboren. Trotzdem fühle sie sich mitschuldig, denn ihr Vater habe als Panzerfahrer am Rußlandfeldzug teilgenommen, und sie wisse, was die Deutschen in der Sowjetunion verbrochen hätten, auch wenn ihr Vater niemals darüber gesprochen habe.

Diese Frau, sagt Gladkow, habe ihn sehr beeindruckt, denn sie fühle sich - auch als Nachgeborene - verantwortlich für ihr Volk. Eine solche Haltung habe er unter den Bundesbürgern nur selten angetroffen; die meisten wüßten gar nicht, was der deutsche Überfall und die deutsche Okkupation für die sowjetischen Völker bedeutet haben. Zugleich habe ihm diese Frau leid getan, weil sie, ohne doch mitschuldig zu sein, sich stellvertretend für ihren Vater schuldig fühle und nun durch eine aufopferungsvolle Einzelaktion etwas von dem wiedergutzumachen suche, was ihr Vater und andere deutsche Väter seinerzeit in der Sowjetunion verbrochen hatten.

Auch er, sagt Gladkow, komme von dieser Vergangenheit im Grunde nicht los. Zwar habe seine Generation nicht mehr gekämpft - dafür war sie zu jung -, aber sie sei die letzte, die den Krieg noch erinnere. Ja, vielleicht, weil er so jung war und dem Schrecken des Krieges noch nicht als Mann und Soldat begegnen konnte, sei ihm dieser besonders tief in die Glieder gefahren.

Gladkow hat etwa zwanzig Bücher über den deutsch -sowjetischen Krieg veröffentlicht. Sein Spezialgebiet sind die russischen Partisanenkämpfe in den von den Nazi-Armeen besetzten Gebieten. Er hat darüber zahlreiche Dokumentationen und zwei fiktive Romane verfaßt. Bei seinen jahrelangen Recherchen ist er auch auf ein Thema gestoßen, das von der westdeutschen Historiographie bis heute schamhaft übergangen und totgeschwiegen wird: auf die Biografien der deutschen Wehrmachtsdeserteure, die bei uns noch immer als „Unpersonen“ gelten und mit dem Odium des „Vaterlandsverräters“ behaftet sind. Ihre Zahl war viel größer, als gemeinhin angenommen beziehungsweise zugegeben wird. Nach Gladkows Recherchen gab es während des zweiten Weltkriegs zwischen 25.000 und 30.000 Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere der Deutschen Wehrmacht, die wegen „Wehrkraftzersetzung“, Desertation oder Desertationsversuchen von deutschen Militärgerichten zum Tode verurteilt und hingerichtet worden sind; der weitaus größte Teil davon während des Rußlandfeldzuges.

Strafe für Wehrmachtzersetzung

Gladkow schlägt eines seiner Bücher auf, das auch in der DDR erschienen ist, und reicht es mit über den Tisch. Ich lese den Augenzeugenbericht eines Smolensker Eisenbahners.

„Eines Tages, im Januar 1942, stand auf dem Rangierbahnhof ein eigenartiger Militärzug. Der Zug wurde sorgfältig bewacht. Die Luken und Waggontüren waren geschlossen, durch die Spalten hörte ich jammervolle Schreie: 'Wasser, Wasser!‘ (...) Ich schlenderte am Zug entlang. Als der Wachposten gerade zum benachbarten Waggon ging, öffnete ich eine der Türen. Aus dem Waggon stürzten zuhauf deutsche Soldaten heraus, zerlumpt, verschmutzt, verwildert, mit entzündeten Augen. Sie warfen sich gierig in den Schnee und versuchten, ihre Kochgeschirre damit zu füllen. Der Wachposten eilte herbei und trieb die deutschen Landser in den Waggon zurück. Ich beobachtete diese mir unbegreifliche Szene. Dann fiel der Wachposten über mich her, bedrohte mich mit dem Karabiner und schleppte mich zur Kommandatur. Dort hörte ich, daß es sich um deutsche Soldaten handelte, die es abgelehnt hatten, weiter zu kämpfen. Sie sollten vor ein Militärgericht gebracht und dann einem KZ überstellt werden. In Smolensk befand sich ein Gefängnis der geheimen Feldpolizei, in dem ausschließlich Deutsche inhaftiert waren. Viele von ihnen wurden am Stadtrand hingerichtet, weil sie sich geweigert hatten, gegen die Rote Armee zu kämpfen und sowjetische Menschen zu töten.“

Beim Wiederaufbau von Smolensk fand man nach 1945 ein Massengrab, in dem mehrere tausend deutsche Soldaten lagen, die - nach Aussagen von sowjetischen Augenzeugen - von deutschen Kommandos erschossen worden waren. Doch keine deutsche Dienststelle hat sich später für diesen Fall interessiert und ihn untersuchen wollen. Eigentlich müßten die Deutschen, sagt Gladkow, dankbar sein, daß nicht alle Soldaten Hitlers verbrecherische Befehle befolgt haben. Aber in der Bundesrepublik werden sie und ihre Schicksale bis heute totgeschwiegen. Erst recht die Schicksale jener deutschen Deserteure, die sich an den Kämpfen der sowjetischen Partisanen aktiv beteiligt haben. Über einen von ihnen - er heißt Fritz Schmenkel - hat Gladkow nach jahrelangen Recherchen einen biografischen Roman geschrieben. Er trägt den Titel „Feind des Führers und des Reiches“ und ist auch in der DDR erschienen, ist allerdings nach der ersten Auflage, die sofort vergriffen war, nicht mehr nachgedruckt worden.

Ich frage Gladkow, warum dieser Roman in der DDR nicht mehr neu aufgelegt worden ist. Er lächelt etwas gequält, seine Antwort kommt zögernd. Die meisten DDR-Bürger der älteren Generation würden nachgerade so tun, als seien sie Antifaschisten gewesen, zumal dann, wenn sie wichtige Funktionen und Ämter in der Partei und im Staat bekleideten. Er habe bisher nur einen DDR-Bürger kennengelernt, der offen zugab, ein begeisterter Hitler-Anhänger gewesen zu sein und von Anfang bis Ende des Krieges für den Sieg der Nazis gekämpft zu haben. Er sei heute Schuldirektor in Halle und SED-Mitglied. Seine Schule immerhin trage den Namen Fritz Schmenkels.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen