: EINE FRAU, EIN AMT UND ANGEPASST
■ Das Leningrader Maly-Theater zeigt „Brüder und Schwestern“ in der Schaubühne
Welche Schlußfolgerungen hat der einfacher Bauer aus der Sprache Stalins zu ziehen?“ - „Ranklotzen.“ Dieser russische Witz beschreibt pointiert das Auseinanderklaffen von Parteiideologie und bäuerlicher Realität, Thema des russischen Gastspiels „Brüder und Schwestern“ von Fjodr Abramov.
Die Trilogie, von der nur zwei Teile in Berlin zu sehen sind, verfolgt eine Dorfgeschichte von der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die fünfziger Jahre hinein. Fokussiert werden die einzelnen episodischen Abschnitte in einer Bauernfamilie. Themen jener Jahre wie Nachkriegselend, miserable Versorgungslage, Landflucht und der mit der wissenschaftlich-technischen Revolution einhergehende Umbruch greift das Stück auf und bindet sie in die Darstellung eines Kolchosealltags ein. Das Leben der Menschen ist bestimmt durch den Wechsel der Jahreszeiten, durch ununterbrochene Arbeit, doch nicht mit dem Nötigsten versorgt, und ein nie endendes Kriegselend trotz Ende des Krieges. Der Frieden, auf den sich während des Krieges alle Hoffnung richtete, erweist sich für den Alltag daheim schlimmer als der Krieg.
Abramov bewegt sich zunächst im Genre der Kolchoseliteratur: Soldat kommt verwundet aber stolz in sein Dorf zurück, findet dort alles in einem deprimierenden Zustand vor, worauf er sich einigen grundsätzlichen, aber letztlich irrelevanten Zweifeln hingibt, endlich aber doch alle Kräfte für den Wiederaufbau mobilisiert, welche ihm ein Parlament und die Liebe seiner Angebeteten einbringt. Abramov übernimmt aber nur den äußeren Rahmen und höhlt die Sache von innen her aus. Auch seine Hauptfigur ist ein Kriegsheimkehrer, jedoch erweist er sich auf die Dauer nicht als Held im Sinne der Partei. Das vorgegebene Schema wird von Abramov vielmehr gegen den Strich gebürstet. Nicht vom Zweifler zum Parteihelden, sondern vom Angepaßten zum Aufmucker entwickelt sich Michael Prjaslin. Keine Frau winkt ihm als Belohnung, vielmehr wird seine Liebe zu Barbara gerade durch Parteizwänge auseinandergerissen und zerstört. Liebe wird also hier nicht länger verstanden als Zuckerbrot des Parteiapparates, sondern als eigenes Recht fordernde Macht, in deren Übergehung sich die Partei gerade als Apparat zeigt.
Von der unter Stalin üblichen, da geforderten Gradlinigkeit und damit Reduzierung der Person auf Rädchen im Parteigetriebe weicht Abramov deutlich ab. Sämtliche Figuren sind nicht eindimensional und parteistromlinienförmig dargestellt, sondern gebrochen. Gerade die Kolchosevorsitzenden müssen ihre tiefen Zweifel an einem System erkennen, das sie täglich zwingt, für ein fernes Gemeinwohl gegen die einzelnen Menschen zu handeln. Verantwortung gegenüber dem Nächsten wird vom Autor somit ausgespielt gegen die Verantwortung gegenüber dem abstrakten Begriff der Partei.
Zustandegekommen ist dieses ungewöhnliche sowjetische Gastspiel als Antwort auf die Beteiligung der Schaubühne an den „Theatertagen der Bundesrepublik Deutschland in Moskau“ im Januar dieses Jahres. Rüber ging die Steinsche Inszenierung der „Drei Schwestern“ von Anton Cechov, zurück kamen die russischen „Brüder und Schwestern“, inszeniert von Lew Dodin. Welch sinniger Familienaustausch, der sich auch am gemeinsamen Regiebild Stanislawskis festmacht.
Das Bühnenbild gibt sich allerdings weniger beängstigend perfektioniert als in den „Drei Schwestern“: Zwar bedient sich der Regisseur einiger akustischer Hintergrundmalerei wie z.B. Vögelgezwitscher und Hahnenschrei, es werden Schüsseln mit dampfendem Fleisch einer heimlich geschlachteten Kuh angeboten, und wir riechen russischen Tabak. Aber Requisiten tauchen nur insofern auf, als sie eine dramaturgische Funktion haben. Eine einzige grobe, lose und beweglich aufgehängte Holzwand stellt Feld, Zimmerwand und Tanzplatz zugleich dar. Auf der BÜhne breitet sich die Wirklichkeit eines ganzen Dorfes mit Kindern, Alten und Krüppeln aus, eine Welt, die Dodin mit dem gesamten Maly -Ensemble vor Ort studiert hat: im Ort Abramovs. Was er dadurch erreicht, ist eine große Lebendigkeit in der Darstellung sowie ein ausgeprägtes Ensemblespiel. Jede Figur ist durchkomponiert, keine sticht heraus.
Daß dem westlichen Zuschauer heute das Stück reichlich tränenreich und antiquiert vorkommt, hat unterschiedliche Gründe. Zum einen lassen sich die häufigen rührenden Liebes und zu tränenreichen Bildern erstarrten Familienszenen nur aus der Zeit des Stücks heraus begreifen und wenn man weiß, daß bis zu Stalins Tod eine Individualisierung der literarischen Figuren verpönt war. Hier wird genüßlich auf einer Tonleiter des Gefühls gespielt, die auf uns mangels ähnlicher Erfahrungen der Unterdrückung übertrieben wirkt.
Zum anderen hält Abramov bei aller Reformfreudigkeit an einem Volksbegriff fest, der sich in Deutschland spätestens mit dem Naturalismus als naiv erwiesen hat. Das volkshafte Element äußert sich in zahlreichen eingestreuten Erzählungen, Witzen, Liedern, Tänzen und Bräuchen.
Das 1958 bzw. 1972 geschriebene Stück bleibt damit einem russophilen Denken verhaftet, welches angesichts der großen ethnischen Probleme heute als pure Ironie erscheinen muß.
Susanne Schlößer
Beide Teile von „Brüder und Schwestern“ werden am Sonntag um 15 Uhr in der Schaubühne wiederholt.
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