Die Streiks als Chance

 ■ K O M M E N T A R E

Mit den Streiks in Sibirien und der Ukraine ging ein sympathisierendes Aufstönen durch unsere Presse. Gorbatschow erscheint nachgerade als Hiob des Sozialismus, den ein unbegreiflicher Gott oder unachsichtiger Weltgeist mit immer neuen Plagen biblischen Ausmaßes verfolgt. Nach Berg -Karabach, Usbekistan, Georgien, Aserbaidschan nun auch die Bergarbeiter - eine merkwürdig frohlockende Angst um die Ordnung und ihren Protagonisten durchherrscht die bundesdeutsche Presse. All das verrät zunächst einmal tiefen Mangel an Kenntnissen der Sowjetunion und vor allem an Fähigkeit, die welthistorische Signatur des Veränderungsprozesses dieses Landes überhaupt zu erfassen. Vor allem aber zeigt es sich, wie verfehlt es ist, mit dem Scheitern der sozialistischen Zwangsherrschaften auch gleich das gesellschaftsanalytische Instrumentarium beiseite zu legen. Auch wenn die marxistisch-leninistische Ideologie gescheitert ist, könnte Marx doch ganz tauglich sein, die Dialektik von Scheitern und Umwandlung zu begreifen.

Zunächst einmal ist es falsch, den Nationalitätenkonflikt mit den Streik der Arbeiter in Kusbass und Donbass gleichzusetzen. Die Gewalt der Stalinschen Nationalitätenpolitik (und die seiner Nachfolger) hat als Erbschaft zwischen den Nationalitäten ein Gewaltverhältnis zurückgelassen; die durch Gewalt erzwungene Einheit des Vielvölkerstaats (ganz abgesehen von den imperialistischen Zugewinn im Baltikum) hat logischerweise die zentrifugalen Kräfte potenziert. Jede Demokratisierung muß hier Gewalt erzeugen, und ohne Unterdrückung wird der Demokratisierungsprozeß nicht verlaufen. Eine historische Konstellation, die uns in der Tat zu angstvollen Zuschauern macht, wo man sich fragen muß, ob die Ansätze einer Civil society in Ost und West diese barbarischen Dimensionen beeinflussen können. Die Streiks der Bergarbeiter sind damit nicht vergleichbar. Sie lassen auf einen hohen Grad von Organisiertheit und politischer Konzeption schließen. Die Art, wie der Streik in Sibirien beendet wurde, zeigt, daß man diese Bergarbeiter als bleibende Kraft einschätzen muß.

Auch wenn die Perestroika als Konzept der Demokratisierung des Apparates durch den Apparat formuliert wurde, ist die Vermassung und Radikalisierung der Konflikte keine bloß hinzukommende Gefahr für die Reform. Die Perestroika war von vorneherein auf die Deklassierung der herrschenden Parteiklasse angelegt. Die sozialpolitische Radikalisierung ist dem Konzept inhärent, auch wenn dies nicht formuliert oder geplant wird. Es ist durchaus denkbar, daß die organisierte Rebellion der Arbeiter die einzige Chance für die Perestroika ist. Welche Kräfte sollte die staatlichen Bürokratien weg von der bürokratisierten Verwaltung des Mangels treiben, welche Kräfte soll die Nomenklatura zur Aufgabe der Privilegien zwingen, welche Kräfte soll die Partei dazu bringen, die Loyalität der Unfähigen preiszugeben? Die Perestroika ist längst an einem Punkt, an dem es nicht mehr darum geht, Bürokratie durch Technokratie, Zentralismus durch Parlamentarismus, Soll durch Wirtschaftlichkeit zu ersetzen. Sie ist an dem Punkt einer sozialen Umwälzung, an dem die Verteilung von Gütern und Lasten neu geordnet werden muß. Natürlich kann eine Ausweitung der Streikbewegung die Nationalitätenkonflikte, und diese die Ausweitung der Streikbewegung heraufbeschwören. Die Alternative zwischen Militärherrschaft oder Bürgerkrieg ist in dieser Zeit inhärent. Aber eine Arbeiterklasse, die die Umwandlung der Gesellschaft selbst in die Hand nimmt, die die Perestroika des Apparates erzwingt, könnte das einzige historische Korrektiv sein gegenüber dem Krieg zwischen den Nationalitäten.

Klaus Hartung