DIE FARBEN DER WEHMUT

■ Das Teatr Osmego Dnia mit „Wermut“ auf der Mir Caravane

Die Bühne zieht sich wie ein Kreuz durch das Zelt: längs von einer schwarzverschleierten Empore bis zum Zeltträger jenseits der Arena und an den Längsseiten sind Tischchen aufgebaut, auf denen Schüsseln oder Eimer mit Wasser stehen. Das Publikum muß in zwei Reihen an der Bühne Platz nehmen. Fast scheint es, daß sich hier Jünger um den Abendmahlstisch versammeln sollen. Die Phantasie schlägt in der düsteren Atmosphäre über die Stränge. An der Bühne soll nicht gegessen werden, sondern die Schauspieler nutzen sie als Laufsteg.

In abgewetzte, graue und schwarze Mäntel gehüllte Männer rennen los: einer, der von zweien verfolgt wird. Die Häscher sind von der Geheimpolizei, das ist sofort zu erkennen. Sie kriegen ihn am Kragen, schlagen ihn zu Boden, und dumpf klingt es, als der Tritt in den Unterleib folgt. Tot! Müde Menschen im Zug, von denen ein jeder ein anderes Ziel hat. Fahren sie „zum Geburtstag“ oder „wegen dem Tod“? Mag sein, daß es ihnen egal ist. Nur einem ist nichts egal. „Sie ließen mich auf Menschen schießen! Ich wußte nicht, daß ich scharfe Munition hatte!“ schreit er immer wieder und hetzt von der Empore zum Zeltträger. In einsamen Wohnungen müssen sie allein unter trüben Lampen mit irgendeinem Ereignis fertig werden. Vierzehn Szenen lang eilt so die Eigenproduktion „Wermut“ des polnischen Teatr Osmego Dnia vorüber.

Die Kreuzform der Bühne war nicht beabsichtigt. Um Religion geht es in dem nach dem fallenden Stern aus der Apokalypse benannten Stück aber allemal. „Wermut“ führte das 1964 in Posznan gegründete Ensemble noch in Polen auf, bevor die Mitglieder das Land verlassen mußten. Im Westen spielen sie es weiter, weitgehend unverändert, weil sie ihrem Publikum hier die polnische Realität zeigen wollten, wie sie war, als sie Polen verließen. Eine Prozession wandert vorüber, später singen die Verschwörer das Weihnachtslied der drei Könige. Immer wieder werden die Arme in die Eimer mit dem „Weihwasser“ getaucht bis es seine reinigende Kraft verloren hat. Weinen, Beten und die ewig wiederkehrenden Schreie „Polska! Polska!“ begleiten die Gruppen, bis schließlich das Hohe Gericht sich schmatzend und geifernd auf Berge weißer Knochen stürzt und dazu das Pionierlied von der immer scheinenden Sonne singt.

Sonne gewährt das Stück aber nur einmal, als die Menschen in einem gemeinsamen Haus leben, dann mit dem Segelschiff aufs Meer hinausfahren. Plötzlich taucht ein roter Rock und ein luftiges Hawaiihemd auf, und das Wasser reicht nicht nur zum Abspülen der Sünden von den Armen, sondern lädt zum fröhlichen Hineinspringen ein. Es handelt sich dabei aber nur um einen Traum. Das Licht wandert in die Dunkelheit zurück, und der, der da im Hawaiihemd der Engelsvision nachläuft, wird schnell umgebracht mit einem dumpfen Tritt in den Unterleib. Die Engel waren Geheimpolizisten.

Einzelne Anspielungen des Teatr Osmego Dnia auf die polnische Geschichte bleiben eingeweihtem Publikum vorbehalten, und der Text wird bewußt zu einem großen Teil nicht in Deutsch, sondern in Polnisch vorgetragen. Das verteilte Textheft hilft ein wenig weiter, ist aber nicht unbedingt vonnöten. „Wermut“ ließe sich in seiner Vehemenz auch ganz ohne Text verstehen. Die Schlußszene, die eine Emigrantengruppe auf dem Forum Romanum zeigt, die strauchelnd, fallend und sich wieder aufrappelnd fernem Licht hinterherstrebt, läßt sich so schnell nicht vergessen.

Claudia Wahjudi

Teatr Osmego Dnia: „Wermut“ noch Do. und Fr. auf der Mir Caravane im Zelt2, jeweils um 20Uhr.