: EIN SCHIFF, DAS SICH GEMEINDE NENNT...
■ 14 Tage Mir Caravane mit nasser „Odyssee“
Nur der extreme Widerspruch zur herrschenden Wirklichkeit schafft Kunst. Der macht sie sozial und unverzichtbar.
Mutmaßlich nicht solche Erwägungen bestimmten die Abwesenheit der Kultursenatorin bei der Eröffnung der Mir Caravane. Mutmaßlich hatte sie einfach was anderes vor. So wurden 200 fahrende Künstler aus mehreren Teilen der Welt von ihren örtlichen Veranstaltern begrüßt, und der für Theater verantwortliche Sekretär der Senatsverwaltung für kulturelle Angelegenheiten war auch dabei. Nebenbei geschrieben wird jede bemerkenswerte Provinzbühne beim jährlichen Theatertreffen mit einer eigenen Premierenfeier bedacht.
Unverdrossen baute das fahrende Volk sein Dorf, aus ökologischen Gründen nicht rund und kommunikativ vorm Reichstag - der durch zahlreiche Großveranstaltungen zertrampelten Wiese dort hätte eine zweiwöchige Lagerfrist zu wehgetan -, sondern langgestreckt auf der Straße des 17.Juni. So kam es, daß Briten einen Kilometer liefen, um Sowjets zu besuchen.
Unverdrossen spielten zehn Theatergruppen nicht nur die angekündigten fast siebzig Vorstellungen, sondern auch noch zu Werbezwecken oder wegen großen Erfolgs zusätzlich angesetzte vor letztlich nahezu hunderttausend Zuschauern, obwohl der Hauptspielort, eine Open-air-Tribüne für fünfzehnhundert leute, mangels polizeilicher Genehmigung gar nicht errichtet werden konnte. Der Erfolg kam langsam mit dem sich bessernden Wetter und den Segnungen der Mundpropaganda gegen Ende der ersten Gastspielwoche. Jungteilnehmer der Caravane veräußerten zwischen den Zelten Andenken an frühere Stationen wie Lenin- und Gorbatschow-T -Shirts, Anbieter alternativer Kost machten genauso gute Geschäfte wie Verkäufer von weniger alternativen Getränken, schließlich bekamen gar Berlin-Touristen von dem Spektakel Wind, belebt war die Straße des 17.Juni wie sonst nur bei alliierten Truppenparaden.
Nicht Kriegsgerät wurde zur Schau gestellt, sondern erklärtermaßen freies und demokratisches Theater sowie das beispielhafte Zusammenleben seiner Produzenten, der Austausch untereinander und der Austausch mit dem Aufenthaltsort. Antwort geben wollen diese Theaterleute auf die bevorstehenden Änderungen der Alten Welt, denn „aus dem Osten erreichen uns Zeichen der Lockerung“, und der Westen ist schon so locker, daß er demnächst gar einen europäischen Binnenmarkt errichten wird. Gründe genug für ein Straßentheaterfestival.
Einige der Sprecher der beteiligten Gruppen halten es für nötig, ihre Erfahrung zu veröffentlichen, daß das mit der östlichen Lockerung wieder nur ein Gerücht war, andere differenzieren: In den sozialistischen Ländern herrscht Mangel an Material, aber Überfluß an menschlicher Beteiligung, hier ist es genau umgekehrt. Die Berliner Organisatoren von der UFA-Fabrik schildern in bewegten Worten ihre freundliche Aufnahme in Moskau und beklagen, ihre Gäste aus Mangel an allem nicht angemessen aufnehmen zu können, aus Mangel an behördlicher Hilfestellung, aus Mangel an Sponsoren, gar aus Mangel an Geld für die Gagen.
Die Mir Caravane '89 zieht weiter nach Kopenhagen, nach Basel, Lausanne und Blois. Einer Mir Caravane der Zukunft, die es geben soll, wären Künstler zu wünschen, die ihre Arbeit und Funktion noch radikaler verstehen, was genaueres Wissen um die Zusammenhänge der Welt voraussetzt. So gebildete Schauspieler hätten halbherzige Vorwände für ihr Tun nicht nötig.
Die Weltpremiere der Gemeinschaftsproduktion aller Beteiligten der Caravane, ODYSSEE 89, ertrank im Regen, bevor sie richtig begonnen hatte. Kopenhagen, übernehmen Sie.
Thomas Keck
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