: Motive für die „Ausreise“ aus der DDR
Die evangelischen Kirchen in der DDR wenden sich gegen die Ausgrenzung derjenigen, die die Republik verlassen wollen / Ihre Darstellungen vom November 1988 beleuchten die heute eher brisantere Problemlage von ausreisewilligen Menschen aus der DDR ■ D O K U M E N T A T I O N
Erfahrungen bei
der Antragstellung
Seit Jahren, in den letzten Monaten vermehrt, wandten sich Menschen an die Evangelische Kirche, die in Not geraten sind, weil sie beharrlich das Verlassen der DDR betreiben. Im Nachfolgenden nennen wir sie „Antragsteller“.
Die Kirche konnte sich diesen Menschen als „Kirche für andere“ - die sie sein möchte - nicht verschließen. Folgende Erfahrungen und Überlegungen möchten wir weitergeben und zur Diskussion stellen.
In den Gesprächen kehren ständig bestimmte Motive und Begründungen wieder, die allgemeine gesellschaftliche Probleme in der DDR widerspiegeln. Sie bewegen auch die Bürger, die nicht zur Gruppe der Antragsteller gehören:
a) Allgemeine Unzufriedenheit mit der politisch -gesellschaftlichen Situation: zu wenig Mitspracherechte, zu wenig Wahlmöglichkeiten auch im beruflichen Leben, im Wohnungsangebot usw., zu wenig individuelle Freiheit, zu wenig Transparenz gesellschaftlicher Prozesse, zu wenig Spielräume für Veränderungen in Richtung auf mehr Vielfalt, zu wenig Dialogbereitschaft über die Ziele gesellschaftlicher Entwicklung.
b) Viele Bürger fühlen sich nicht ernst genommen, entmündigt, hilflos der Bürokratie ausgeliefert, vor allem dann, wenn getroffene Entscheidungen nicht begründet werden oder Antragsteller gar ironisch abgefertigt werden. Der Abstand zwischen Entscheidungsträgern und Bürgern wird als zu groß empfunden; es gibt zu wenig bürgernahe Gespräche.
c) Viele empfinden es als Ungerechtigkeit bzw. Benachteiligung, wenn in Schule, Wissenschaft und Wirtschaft nicht die Leistung und charakterliche Eignung zum entscheidenden Maßstab gemacht werden, sondern die politische Einstellung. Ein solches Vorgehen begünstigt Heuchelei.
d) Besonders junge Menschen, aber auch wache und bewegliche Zeitgenossen fühlen sich durch die bestehenden Reisebeschränkungen eingeengt, ja eingesperrt. Sie empfinden es als Mißtrauen, das ihnen entgegengebrucht wird, als Unrecht, das ihnen angetan wird, daß sie nicht in das NSW reisen dürfen, zumals die Reisemöglichkeiten in Osteuropa aus unterschiedlichen Gründen ebenfalls beschränkt sind. Ein gewisser Provinzialismus macht sich breit.
Die vielen Mangelerscheinungen und „Engpässe“ in der Wirtschaft der DDR nach fast 40 Jahren des Bestehens machen viele Menschen unzufrieden und lassen sie nach der Effektivität des sozialistischen Wirtschaftssystems überhaupt fragen, zumal die umfassende Befriedigung der materiellen Bedürfnisse als Hauptaufgabe der sozialistischen Wirtschaftspolitik ausgegeben wird.
f) In diesem Zusammenhang empfinden es viele Menschen in der DDR als unerträglich, daß in den Medien der DDR vor allem von Erfolgen die Rede ist, während sie doch von ihrem Arbeitsplatz die wirtschaftliche Misere kennen (Rohstoffknappheit, bürokratische Hemmnisse, mangelnde Flexibilität der Planwirtschaft, doppelte Buchführung, unrealistische Lohn- und Preispolitik). Die Bürger haben das unabweisbare Gefühl, daß ihnen unangenehme Wahrheiten bewußt vorenthalten werden.
g) Für die Angehörigen der wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Intelligenz sind die begrenzten Möglichkeiten des grenzüberschreitenden Austauschs eine zusätzliche Quelle der Unzufriedenheit, fühlen sie doch, daß auch sie mehr leisten und erfolgreicher arbeiten könnten, wenn sie Zugang zu neuen unkonventionellen Methoden und Erkenntnissen hätten. Technischer Fortschritt bleibt unter diesen Umständen auf der Strecke. Der Abstand zu Innovationen in anderen Ländern wird als zu groß empfunden. Der wissenschaftliche Fortschritt wird durch die gegebenen Bedingungen gebremst. Auch diese Gründe führen oft zur Antragstellung.
h) Als Quelle des Unbehagens und der Kritik wird immer häufiger das doppelte Währungssystem, das zu neuen „Klassen“ führt, genannt. Der Ausbau der Intershops, der Valutahotels und der Privilegien für Devisenbesitzer stehen auch für überzeugte Marxisten in krassem Gegensatz zu ideologischen Grundaussagen des Sozialismus.
i) Schließlich sei noch erwähnt, daß der Mangel an ehrlicher Selbstkritik seitens der Staatsorgane oder staatlicher Leiter viele an sich gutwillige und zur Mitarbeit bereite Bürger im Laufe der Zeit frustriert, weil sie die Mißstände vor Augen haben, aber mit ihrer Kritik abgewiesen werden, ohne daß wenigstens der Dialog in angemessener Weise geführt wird.
Die Kirche hat nach ihrem Selbstverständnis (Barmen V. These) nicht die Aufgabe, sich staatliche Funktionen anzumaßen, aber es gehört zu ihrer Verantwortung, die erkannten Probleme zu benennen und in Gesprächen mit Vertretern des Staates auf allen Ebenen in einer Atmosphäre des Vertrauens zur Sprache zu bringen. Das soll nicht Ausdruck von Opposition sein, sondern dem Interesse der Menschen dieses Landes dienen.
Um den Aderlaß zu stoppen, der durch die große Zahl der Antragsteller unserm Land zugefügt wird, sollten erste Schritte Zeichen des Vertrauens setzen: Reiseerleichterungen, mehr Transparenz, Begründung von Ablehnungen, Angebot von Gesprächen und Zulassen von mehr Kreativität, größere Rechtssicherheit, gerichtliche Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen sowie Erweiterung der Wirkungsmöglichkeiten. Die Kirche sollte in dieser Richtung vorstellig werden und auf Veränderung dringen.
Arbeitskreis evangelischer Seelsorger bei der Generalsuperintendantur in Berlin
Wege zur Lösung
des Problems
1. Die schwelenden Konflikte müssen öffentlich diskutiert, zwischen der Staatsführung und der Bevölkerung muß ein Dialog eingeleitet werden. „Man muß den Menschen die Wahrheit sagen, darf keine Angst vor dem eigenen Volk haben, ...durch Offenheit... ist das moralische Potential der Gesellschaft mobilisiert worden.“ (Gorbatschow)
2. Es muß eine gesellschaftliche Struktur hergestellt werden, die dem Bürger eine umfassende Informiertheit über gesellschaftspolitische, ökonomisch usw. Prozesse innerhalb seines Landes sowie über das Geschehen in der Welt ermöglicht.
3. Der Bürger muß an der Entscheidung wichtiger gesellschaftspolitischer Prozesse, an der Gestaltung seiner Zukunft, an der Entscheidung über das, was in der Gesellschaft unter Fortschritt, unter Lebensqualität usw. zu verstehen ist, beteiligt werden.
4. Dem Bürger ist Eigenständigkeit und Selbstbestimmung, ein eigener Wert - unabhängig von ökonomischen Sachzwängen und „Notwendigkeiten“, von gesellschaftlichen Zielen usw. zu gewähren.
5. Dem Bürger ist eine gesetzlich abgesicherte Freizügigkeit und damit auch und gerade die Möglichkeit von Ausreise, Wiedereinreise und Aufenthalt in anderen Ländern zu ermöglichen.
Arbeitskreis „Gottesdienste für Gerechtigkeit und Frieden“ beim Präsidium der Synode des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR
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